Ich liege schon seit einiger Zeit mit einer Krebserkrankung in einer Uniklinik. Medizinisch kann ich mich dem anvertrauen, was die Ärzte vorschlagen. Es ist sinnvoll, durchdacht, von vielen Erfahrungen getragen.
Große Probleme habe ich mit dem psychischen Begleitprogramm. Immer wieder treten Doctores, Schwestern und andere Fachleute an mein Bett und sagen mir, was ich alles sonst noch zur Bewältigung meiner Krankheit tun könne. Außer Stahl und Gift und Strahl. Als Herausforderung solle ich sie doch bitte annehmen lernen, als Reifungschance. Ich könne daran wachsen und der werden, der ich wirklich bin ...
Zum Teufel mit diesem Geschwafel! Zum Teufel mit den Büchern und Broschüren, die sie mir dabei auf den Nachttisch legen! Mein Krebs macht mich traurig, verzweifelt, hilflos, jedenfalls immer wieder, und ich lasse mir diese Gefühle verdammt noch mal nicht einfach nehmen. Das Ganze in ein großes Glückserleben umtaufen zu wollen, ist unverschämt.
Ich habe den Eindruck, hier ist eine Selbstoptimierung am Werk, die vor allem an einem störungsfreien Funktionieren interessiert ist. Natürlich – ein Patient, der stöhnt, der weint, der schreit oder flucht, stört den reibungslosen Ablauf. Öffne dich für das verborgene Glück, heißt die Antwort. Aber das ist Bullshit, auf Deutsch gesagt, das ist Hysterie! Ende meines Brandbriefs!!
O weh, das ahnte der gute amerikanische Psychologe Martin Seligman wohl wirklich nicht, was man einmal alles mit ihm anstellen könnte. In den 1970er-Jahren hatte er seine "positive Psychologie" formuliert. Ein einfacher Grundgedanke, der rasch um die Welt ging: Glücklich bist du, wenn du glücklich sein willst, wer positiv denkt, dem geht es gut!
Ich erinnere mich noch, wie ich Anfang der 1990er sein Buch "Pessimisten küsst man nicht" in die Hände bekam. Schon damals dachte ich mir: Wo steht geschrieben, dass Optimisten besser küssen? Und wie ist das mit Atheisten oder Monotheisten oder irgendwelchen anderen -isten?
Aber Spaß beiseite. Es stimmt schon, dass ich mich einstimmen kann, wie ich etwas aufnehme. Wählen und entscheiden kann, was ich daraus mache, und was es mit mir macht. "Jeder ist seines Glückes Störenfried", las ich neulich. Nicht ganz falsch.
Dennoch, Sie erleben sehr persönlich, sehr hautnah, was es bedeutet, wenn dieses positive Denken andere Erfahrungen zurückdrängt oder gar verbietet. Unsere Schmerzen, unsere Tränen, unsere Verzweiflung, unsere Angst, unser Leid. Das sind doch Erfahrungen, die auch zum Leben gehören, und je besser wir uns darin angenommen und verstanden fühlen, desto erträglicher werden sie. Zumindest hört die Einsamkeit auf und manchmal, ja, ist dies der Anfang zu einer Überwindung. Deswegen heißt es in der Bibel: "Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden." (Römer 12, 15)
Zum Schluss: Ihr Brandbrief hat seinen Sinn. Mit den Worten Martin Luthers: "Ich habe kein besser Werk denn Zorn und Eifer ... Da erfrischet sich mein ganzes Geblüt, mein Verstand wird geschärft, und alle unlustigen Gedanken und Anfechtungen weichen." Möge es auch bei Ihnen so sein.