Tagelanger Arrest, permanente Demütigung, sexuelle Übergriffe: Die Bandbreite der Grenzüberschreitungen, die Kinder und Jugendliche in Einrichtungen von SOS-Kinderdorf Deutschland ertragen mussten, ist groß. Eine unabhängige Aufarbeitungskommission hat sich seit 2021 mit den bislang 226 bekannten Fällen beschäftigt und am Mittwoch in München ihren Bericht vorgestellt.
SOS-Kinderdorf
"Grenzverletzungen und Übergriffe gegenüber den anvertrauten Kindern hat es bei SOS-Kinderdorf nicht nur in der Vergangenheit gegeben, sondern auch in der jüngeren Zeit bis heute", sagte Kommissionsvorsitzender Professor Klaus Schäfer. Da die Aktenlage dürftig sei, sei eine Dunkelziffer "wahrscheinlich, aber nicht verifizierbar".
Übergriffe
Im Wesentlichen gehe es bei den Übergriffen um drei Formen: "Körperliche und psychische Gewalt sowie sexuelle Übergriffe, in Einzelfällen auch Vergewaltigungen", sagte der Diplom-Pädagoge. 189 der Fälle kamen über die 2010 eingerichtete interne Meldestelle bei SOS-Kinderdorf an die Kommission.
Weitere 37 Betroffene hatten sich über einen Aufruf in Regionalzeitungen im Jahr 2023 gemeldet. Tatorte für Grenzüberschreitungen waren und sind vor allem die Kinderdorffamilien und die Wohngruppen: Jeweils rund 40 Prozent der Übergriffe fanden dort statt. Etwa die Hälfte der Taten gingen dabei von Mitarbeitenden – wie Kinderdorfmütter oder Erzieher – aus. 20 Prozent der Übergriffe fanden durch andere betreute Jugendliche statt.
Motive
Die Motive für die Übergriffe hätten sich seit Gründung von SOS-Kinderdorf Deutschland im Jahr 1955 gewandelt: "In den Anfangsjahrzehnten war ein bestimmtes Erziehungsverständnis der Grund, in dem das Züchtigungsrecht noch verankert war. Heute spielen Aspekte von Überforderung oder Machtausübung eine größere Rolle", sagte Schäfer.
Die "erstaunliche Dominanz", die den Kinderdorfmüttern lange Zeit zugebilligt wurde, sei lange ein Grund für mangelnde Wahrnehmung von Missbrauch gewesen.
SOS-Kinderdorf Deutschland: Untersuchung von 226 Fällen
Die Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf Deutschland, Professor Sabina Schutter, zeigte sich "zutiefst erschüttert" und bat alle Betroffenen um Entschuldigung: "Wir haben nicht immer gut genug hingehört, nicht alle Beschwerden ernst genommen und nicht angemessen reagiert." Künftig werde man jeder Meldung von Unrecht schnell und umfassend nachgehen, sagte Schutter, die seit 2021 im Amt ist. Zuletzt habe man 33 Meldungen an die Generalstaatsanwaltschaft München übergeben, die nun prüfe, ob strafrechtlich relevante Vergehen vorlägen.
Aktionsplan Kinderschutz bei SOS Kinderdorf
Schon 2021 habe der Verein außerdem einen "Aktionsplan Kinderschutz" gestartet. Er sieht vor, dass in jedem SOS-Kinderdorf eine Kinderschutzfachkraft beschäftigt wird und dass ab 2025 in jeder Kinderdorffamilie eine "Jahresreflexion" stattfindet, um Risiken frühzeitig zu erkennen. Das Konzept der Betreuung in Familien - das Herzstück von SOS-Kinderdorf - müsse modernisiert werden. Dieses aus Angst vor Risiken abzuschaffen, hält Schutter aber nicht für sinnvoll: "Für manche Kinder kann diese Form der Betreuung extrem wertvoll sein."
Der Kommissionsvorsitzende Schäfer wiederum betonte, dass die Erziehung in Kinderdorffamilien keine Privatsache, sondern "öffentlicher Auftrag" sei: "Die Geschlossenheit von Kinderdorffamilien ist ein Risiko." Die Kommission empfehle daher eine "weitere Professionalisierung" von Kinderdorfmüttern und -vätern. Auch müsse die Aufarbeitung bei SOS-Kinderdorf fortgesetzt und für Betroffene ein "mitfühlendes Erinnern" organisiert werden. Kinderschutz müsse in allen Einrichtungen des Vereins als wichtiges Ziel verstanden werden. Die interne Anlaufstelle, die bislang "eine geringe Wirksamkeit" entfaltet habe, müsse weiterentwickelt und mit mehr Kapazitäten ausgestattet werden.
In den Gesprächen mit den Betroffenen sei deutlich geworden, dass es den meisten nicht primär um eine Anerkennungszahlung gehe, sagte Schäfer: "Sie wollen, dass den Verantwortlichen bewusst wird, was passiert ist - und dass es Kindern in SOS-Kinderdörfern in Zukunft nicht mehr geschieht."
SOS-Kinderdorf Deutschland
1949 gründete der österreichische Medizinstudent Hermann Gmeiner das erste SOS-Kinderdorf für Waisenkinder in Imst (Tirol). 1955 folgte der deutsche Ableger mit dem ersten Kinderdorf in Dießen am Ammersee; seit den 1960er Jahren hat sich die Idee in über 130 Ländern verbreitet. Allein SOS-Kinderdorf Deutschland betreibt heute eigenen Angaben zufolge 39 Einrichtungen an 266 Standorten in Deutschland.
Herzstück des Vereins waren in den ersten Jahrzehnten die Kinderdorffamilien. Dort sollten Kinder, die nicht bei ihren Eltern leben konnten, eine Betreuung in einem familiären Umfeld erhalten. Mittlerweile bietet SOS-Kinderdorf Deutschland auch ambulante Hilfen sowie Beratung für Familien, Angebote zur schulischen und beruflichen Bildung sowie Tagesbetreuung für Menschen mit Behinderung an.
Im Jahr 2023 lebten laut Verein 352 Kinder und Jugendliche in 82 deutschen SOS-Kinderdorffamilien. Rund 3.650 junge Menschen nutzten die insgesamt 141 berufsorientierten Angebote, weitere rund 10.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderung wurden stationär, in Kitas oder berufsorientierten Maßnahmen betreut. In über 10.700 Fällen habe der Verein junge Menschen und Familien ambulant und durch Beratung unterstützt.
SOS-Kinderdorf Deutschland hat den Angaben zufolge 5.200 Mitarbeitende und 1.300 ehrenamtlich Beschäftigte. Kinderdorfmütter oder -väter benötigen eine pädagogische Qualifikation; Quereinsteiger können mithilfe des Vereins eine dreijährige berufsbegleitende Ausbildung zu staatlich anerkannten Erzieherinnen oder Erziehern absolvieren.
Seit 2010 hat der Verein eine "Interne Anlauf- und Monitoringstelle für kindeswohlgefährdende Grenzüberschreitung" eingerichtet. Sie soll Einrichtungen im Einzelfall unterstützen und übergreifende Schutzkonzepte weiterentwickeln, heißt es in einem Leitfaden mit dem Titel "Verbindliche Verfahrenswege bei Grenzüberschreitungen in Einrichtungen des SOS-Kinderdorfvereins". 2021 hat SOS-Kinderdorf Deutschland schließlich eine unabhängige Kommission mit der Aufarbeitung von Missbrauch und Gewalt in den einzelnen Einrichtungen beauftragt.
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