Es kommt nur etwa alle sieben Jahre vor, dass der letzte Tag des Jahres auf einen Sonntag fällt. Heuer ist es wieder einmal so weit. Trägt ein Sonntag das Datum 31. Dezember, bekommt er den schönen Namen Altjahresabend – auch schon am Vormittag. Ein Jahr neigt sich dem Ende zu, und so wie man am Abend zurückschaut auf den Tag, so sehen wir heute zurück auf ein ganzes Jahr.

Als biblische Hilfe wird für den diesjährigen Altjahresabend eine kleine Passage aus dem 2. Buch Mose vorgeschlagen, dem Buch Exodus. Es geht um den großen Zug des Volks Israel aus der ägyptischen Sklaverei.
Und der Herr zog vor ihnen her, am Tag in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.

Ein mächtiges Bild, mit dem sich die Juden die permanente Anwesenheit Gottes während der langen Reise durch die Wüste ausgemalt haben. Man erzählt sich alte Geschichten, weil die Vergangenheit eine Bedeutung hat für heute: So, wie wir damals aus der Gefangenschaft frei gekommen sind, so werden wir uns jetzt nie wieder versklaven lassen. Ein kraftvoller Mythos. Diese Kraft der Mythen ist schön eingefangen im Untertitel des Filmepos "Krieg der Sterne", das seit 40 Jahren Unmengen Fans auf der ganzen Welt hat. Der Untertitel lautet im Deutschen: "Es war einmal, in ferner Zukunft." Der Mythos ist weder alt noch neu, er steht außerhalb der Zeit. Darum wollte George Lucas, der Erfinder der Star-Wars-Sagen, keine moderne, typische Science-Fiction-Musik für seine Filme, sondern zeitlose, klassische Töne. Er fand sie beim Komponisten John Williams, dessen Musik die heutige Morgenfeier begleiten soll.

 "Es war einmal, in ferner Zukunft" – lassen Sie uns nach diesem Motto zurücksehen auf das alte Jahr, um für das neue Jahr daraus zu lernen. Wenn Sie sich vorstellen, die vergangenen 365 Tage lägen wie eine Fläche vor Ihnen – gab es da Momente, die herausragten wie eine Wolkensäule? Vielleicht gab es auch Erlebnisse, die wie heiliges Feuer waren. Bei mir war es ein einzelner Satz, um den meine Gedanken immer wieder kreisen, seitdem ich ihn gelesen habe. Er ist von Jorge Luis Borges, dem großen argentinischen Erzähler. In einem Vortrag über den Buddhismus erzählte Borges in einem Nebensatz, dass buddhistische Mönche im Laufe ihrer geistlichen Ausbildung auch darüber meditieren, dass es Buddha nie gegeben hat.
Muss Glaube den Unglauben ausprobieren?

Diese Bemerkung traf mich wie der Anblick einer Feuersäule in der Wüste. Sich als Glaubender den Gründer des eigenen Glaubens wegzudenken? Das ist doch, als würde man sich den Boden unter den eigenen Füßen wegziehen. Ich stellte mir vor, so eine Übung hätte es auf dem Weg zu meinem Glauben gegeben. Angenommen, ich hätte als Vierzehnjähriger auf der Konfi-Freizeit ein Wochenende lang so leben müssen, als hätte Jesus nie existiert. Oder ich hätte in der Fastenzeit "sieben Wochen ohne Gott" probiert. Oder ein Semester Atheismus studiert als Bestandteil der Ausbildung zum Pfarrer. Während meines Studiums habe ich mich wie jeder angehende Theologe tatsächlich mit atheistischer Philosophie beschäftigt und mit der Gott-ist-tot-Theologie. Aber nie wurde ich dabei aufgefordert, das näher an mich heranzulassen.

Im Rückblick merke ich, dass ich mir solche Gedanken verboten hatte, aus Angst. Ich denke, vielen Christinnen und Christen geht es ähnlich. Doch wäre es nicht wichtig, mutig andere Standpunkte einzunehmen und sie gleichsam von innen selbst zu spüren? Entstünde nicht erst dann fester Glaube, wenn man den Nicht-Glauben erlebt hat und sagen kann: "Nein, Atheismus ist nichts für mich. Ich bleibe Christ."

Ich schätze, dass nur sehr wenige Christen so weit gegangen sind. Das gilt wohl auch für die Gegenseite. Von den Menschen, die sich die Existenz Gottes nicht vorstellen können, dürften die wenigsten den Glauben an Gott selbst ausprobiert haben. Sie sehen ihn sich nur von außen an und sagen: Was sind das für Naivlinge, die immer noch wie kleine Kinder an Gott glauben!

Atheismus 2.0

Seit ein paar Jahren macht ein Atheist von sich reden, der das anders macht. Der Philosoph Alain de Botton nähert sich dem Glauben von der Seite der Glaubenslosen. Er wurde vor 48 Jahren in der Schweiz geboren, lebt in England und stammt aus einer Familie, in der Atheismus selbstverständlich war. Gott kam bei den Bottons überhaupt nicht infrage. Man lächelte eher mitleidig über Menschen, die an Gott, Jesus, Allah, Vishnu oder sonst etwas glaubten. Alain aber war diese Hochnäsigkeit suspekt.

Denn viele Atheisten sagen ja durchaus: Ich liebe Weihnachtslieder, ich liebe die Gemälde der christlichen Kunst, ich bewundere die Kathedralen und lese gerne in der Bibel. Sie fühlen sich hingezogen zur moralischen und emotionalen Seite der Religion, können aber die Lehrmeinungen der Kirche nicht ertragen. Bis jetzt, so schreibt de Botton in seinem Bestseller "Religion für Atheisten", bis jetzt musste man sich zwischen zwei Übeln entscheiden: Entweder wollte man die Errungenschaften der christlichen Kultur für sich nutzen, dann musste man sich auch zum dazugehörigen Dogma bekennen. Oder man lehnte die Dogmen ab, lebte dafür aber in spirituellem Ödland. Ein schrecklicher Zustand, den der Atheist Friedrich Nietzsche folgendermaßen beschrieb: "So zu leben, dass es keinen Sinn mehr hat, zu leben – das wird jetzt zum Sinn des Lebens."

Ein Atheist lernt von der Religion

De Botton glaubt, dass es eine Lösung gibt in der Mitte zwischen beidem. Er rät den Atheisten, sich den guten Seiten der Religion zu öffnen. "Atheismus 2.0" nennt er das, und geht im Schatz der religiösen Kultur munter auf Entdeckungsreise:
Religion antwortet auf die großen Fragen nach Moral, Orientierung und Trost mit Gewissheiten. Etwas, das weltliche Bildungsangebote nicht bieten. Wenn ein junger Mensch heute auf der Universität Orientierung und Trost für sein Leben finden will, wird er enttäuscht. Studenten gelten nicht als Hilfsbedürftige, sondern als Lernbedürftige. Sie bekommen Daten und Fakten zum Lernen, aber keine Lebenshilfe.

Religionen haben da einen anderen Ansatz. Prediger wagen es, den Menschen zu sagen, wie sie leben sollen. Sie predigen über die Pflichten der Eltern gegenüber ihren Kindern, die Pflichten der Kinder gegenüber ihren Eltern, die Pflichten der Politik gegenüber den Bürgern, und die Pflichten der Bürger gegenüber der Allgemeinheit. Sie wagen es, ihren Zuhörerinnen und Zuhörern zu sagen: Ich will dir Orientierung geben. Ich will dir Trost geben. Du musst dein Leben ändern.

Aus demselben Grund teilen Religionen Zeit ein. Neujahr empfinden wir als ein eher weltliches Fest. Aber der Kalender ist eigentlich eine religiöse Erfindung, damit Menschen im Lauf eines Jahres mit den wichtigsten Gedanken konfrontiert werden. In der säkularen Welt sagt man: Ist eine Idee wichtig, werde ich schon irgendwann daran denken. Religion sagt: Besser, du lenkst deine Gedanken zu bestimmten Festen auf bestimmte Wahrheiten. Am Weihnachtsfest auf die Dankbarkeit für das Leben, am Ewigkeitssonntag auf die Vergänglichkeit, am Altjahresabend auf das Wunder der Zeitlosigkeit. So wie John Williams zeitlose Musik zum Film "Das Reich der Sonne".

Sonntagsgottesdienste ohne Gott

Aus den Ideen des "Atheismus 2.0" ist eine Bewegung geworden. Sie heißt "School of Life", Schule des Lebens. In einigen Großstädten der Welt treffen sich am Sonntagvormittag Menschen zu einer "Assembly", also einer Versammlung. Die Form ist ganz bewusst dem Sonntagsgottesdienst abgeguckt. Es gibt eine Art Predigt und eine Art Kirchenjahr. Die "School of Life" hat im Internet über 8 Millionen Follower. Vor allem aber, und da wird es interessant, bekommt sie auch Zulauf von Christen und Angehörigen anderer Religionen.

Denn am anderen Ende des Spektrums, bei den Gläubigen jeder Art, gibt es mindestens so viele Unzufriedene wie bei den Atheisten. Joachim Kunstmann, Professor für Religionspädagogik, ist einer von mehreren christlichen Theologen, die dazu mahnen, Religion und Religion zu unterscheiden. Da gibt es auf der einen Seite die lebendige, erfahrungsbezogene Religion, die mit der Gegenwartskultur ganz gut zurechtkommt. Der Bericht von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen etwa ist für sie ein Mythos, der den Sabbat erklären soll, und keine naturwissenschaftliche Beschreibung, wie die Erde entstand. Für sie bricht keine Welt zusammen, wenn sie erfahren, dass die Geschichte von Wolkensäule und Feuersäule und dem durch die Wüste wandernden Gottesvolk Mythen sind, mit einer langen Tradition und Wirkungsgeschichte.

Auf der anderen Seite steht eine Religion, die solchen differenziert empfindenden Menschen immer absurder erscheint. Eine Religiosität, die ihre eigenen Mythen und Symbole für Fakten hält. Die die sieben Schöpfungstage zur unumstößlichen naturwissenschaftlichen Tatsache macht. Die alltägliche Vernunft auszublenden, findet immer wieder Freunde, denn Menschen sehnen sich nach Glaubensgewissheit. Auch bei Geistlichen und frommen Gemeindemitgliedern ist eine zunehmende Abschottung zu beobachten. Die Meinung der Allgemeinheit beschimpfen sie als "Modernismus" oder einfach "Unglauben". Wer die alten Denkgewohnheiten in Frage stellt, wird abgewiesen oder ausgeschlossen. Am Ende wird daraus Fanatismus.

Glaube und Unglaube gehen aufeinander zu

Dass der nicht harmlos ist, wissen wir nicht erst seit den religiös motivierten Terroranschlägen der letzten Jahre. Die Menschheit hat fürchterliche Glaubenskriege hinter sich. Kriege zwischen verfeindeten Religionen, und erbitterte Schlachten zwischen einzelnen Konfessionen innerhalb derselben Religion.

Ich bin davon überzeugt, dass wir Menschen lernfähig sind. Wir können aus den vergangenen Kriegen lernen. Wir Glaubenden müssen den Fanatikern jeder Art zurufen: Es reicht! Wir wollen am Leben bleiben! Wir wollen uns nicht von Glaubensstreitigkeiten in die nächste Katastrophe reißen lassen!

Wir Christen sind, trotz der schrecklichen Konfessionskriege vor bald genau 400 Jahren, für Frieden eigentlich prädestiniert. Denn unser christlicher Glaube ist eine Mischreligion. Wir haben zwei heilige Schriften, das Alte und das Neue Testament, eine aus dem jüdischen Glauben, und eine aus dem christlichen. Wir glauben, dass sie zusammengehören. Dass die Geschichte Gottes mit seinem Volk weitergeht mit allen Menschen, dass die gesamte Menschheit Volk Gottes ist.


Der Traum von einer Welt der Begegnung    

Lassen Sie uns am Altjahresabend nach vorne blicken. Nach was für einer Welt sehnen wir uns? Ich träume nicht von einer Welt mit klaren Grenzen zwischen den Religionen. Mein Ideal ist kein Planet voller abgeschotteter Territorien mit hohen Mauern, hinter denen sich Kulturen, Konfessionen und Religionen verschanzt haben. Ich träume von einer Welt, die aussieht wie ein großer Marktplatz, auf dem man sich trifft, sich unterhält und begegnet. Ein Ort, an dem auch Menschen ohne Religion einen Platz haben, wenn sie den Geist der Feindseligkeit gegenüber Andersdenkenden abgelegt haben.

Bei den "Sunday Assemblies" menschelt es genauso wie bei unseren Gottesdiensten. Aber dort gilt der Grundsatz der Höflichkeit – eine wertvolle Errungenschaft menschlichen Zusammenlebens, um mit Andersdenkenden auszukommen. Wer geübt hat, höflich zu sein, kann Kriege im Ansatz verhindern. Wenn ein Glaubender erzählt, wie er inbrünstig gebetet hat, sollte ein atheistischer Zuhörer das still respektieren. Genau wie ein Glaubender es einem atheistischen Gesprächspartner zugestehen sollte, dass der mit einer bestimmten Gottesvorstellung nichts anfangen kann.

Juden und Christen als Nachbarn des Atheismus

Wir sind noch aus einem anderen Grund prädestiniert für den Glaubensfrieden. Denn die christliche wie schon die jüdische Religion zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine Angst haben vor dem Atheismus. Immer wieder wird im Alten wie im Neuen Testament von Menschen berichtet, die das bestehende Gottesbild hinterfragen. Im Buch Hiob etwa geht es um die Frage: Was, wenn einem guten Menschen Böses widerfährt? Der gute Mensch Hiob sagt zu Gott: "Ich habe einen Vertrag mit dir. Wenn ich nach deinen Geboten lebe, segnest du mich, so hast du es mir versprochen. Darauf muss ich mich verlassen können." Doch er verliert alles. Krank und stumm sitzt er in Sack und Asche. Seine Freunde sagen: "Bestimmt hast du etwas übersehen. Wahrscheinlich gibt es Gebote, von denen du nichts wusstest." Aber Hiob bleibt aufrecht. Er sagt Nein zu seinen Freunden und besteht auf seinem Recht.

Zum Schluss besteht Gott auf seiner Allmacht. Er kann mit jedem Menschen machen, was er will. Aber, und das ist das atemberaubend Neue: Hiob geht aus dem Zweikampf mit Gott als moralischer Sieger hervor. Der Mensch Hiob, der sich auf einen Vertrag mit Gott verlassen hat, steht am Ende über dem despotischen Gott, der die Menschen Verträge unterzeichnen lässt und sie dann nicht einhält.

Atheismus ist für mich nicht die Antwort. Die Menschen hatten eine falsche Vorstellung von Gott. Gott ist kein abgehobener Tyrann, unendlich weit von den Menschen entfernt, der machen kann, was er will. Wir müssen uns Gott menschlicher vorstellen, auf Augenhöhe mit uns. Gott ist uns näher, als wir dachten.

Das Ende des kriegerischen Gottes

Da kam ein Mensch, der genau das verkündete, Jesus von Nazareth. Ein gebildeter Jude vom Lande, der vielleicht Kontakt hatte mit anderen spirituellen Richtungen aus dem fernen Osten. In dieser Zeit wurden Rohstoffe aus der ganzen bekannten Welt durch Israel transportiert. Das Land war eine Drehscheibe von Waren, und bestimmt auch von Weltanschauungen und Religionen.

Dieser Jesus wird mit auf dem großen Marktplatz sitzen, von dem ich träume. Jesus wird mit den Juden essen und trinken und von seinem Freund und Vorbild Hiob erzählen. Jesus wird sie an den Messias erinnern, den lange ersehnten Retter, der die Kriegsparteien aus dem Elend der Feindseligkeit erlöst. Jesus wird bei den Atheisten sitzen und mit ihnen den Kopf schütteln über Pharisäer und andere verbohrte Vertreter organisierter Religion. Jesus wird sich mit den Moslems freuen über die begeisterte Liebe zum unbenennbaren Gott. Jesus wird mit den Hindus staunen über den unendlichen Reichtum der Erscheinungsformen des Göttlichen. Jesus wird den Buddhisten zustimmen, dass ein Mensch jede Vorstellung von Gott überhaupt hinter sich lassen muss. Und Jesus wird als Mensch Zeugnis davon geben, dass ein Mensch bereit ist, für diese Wahrheit zu sterben.

So einen Platz voller Menschen aus allen Glaubensrichtungen wünsche ich mir. Das ist ein Traum. Die ganze Welt wird niemals so ein friedlich diskutierender Marktplatz werden. Aber wir werden immer wieder an Couchtischen und Konferenztischen sitzen, auf Wirtshausbänken und Sofas, und wir werden immer die Freiheit haben, ob wir über das sprechen, was uns trennt. Oder über das, was uns verbindet.

Mein Lieblingsstück des Filmkomponisten John Williams ist der Marsch für den Film "1941", eine Satire auf den Krieg, und ein Flop an der Kinokasse. Ich liebe das Stück, weil es eine musikalische Satire ist. Zu solcher Musik voller Triolen und Synkopen kann man nicht marschieren, sondern eigentlich nur tanzen oder mit dem Körper wippen und jedenfalls keine kriegerischen Gedanken haben. Sondern solche der Dankbarkeit und der Lebensfreude.