Nicht von ungefähr ist in unserer Zeit der Protest gegen Ungerechtigkeit laut, wird die Frage nach immer mehr Wachstum, nach mehr Konsum mit Nachdruck gestellt, ist die Zerstörung des Lebensraumes Erde längst kein Problem alternativer Gruppen. Die Veränderung ungerechter Verhältnisse, die Gleichgültigkeit gegenüber Not und Leid, die Warnungen vor einem gottfernen Leben sind gerade in der alttestamentlichen Prophetie beispielhaft. Propheten sind Mahner, Rufer, haben Gott, seinen Anspruch in der Geschichte, in der jeweiligen historischen Situation verkündet. 

Wer sind diese Propheten, die heute die Stunde ansagen? 

Ich möchte Dorothee Sölle (1929-2003) eine moderne Prophetin nennen, die wie die Propheten im Alten Testament nach Gottes Willen fragte, die kein gottfernes Leben wollte, sondern Leben als Umkehr, als Konversion verstand. Sie sagte nein zu den lebenszerstörenden Hoffnungen, nein zu Ungerechtigkeit, nein zur Zerstörung des Lebensraumes Erde.

Dorothee Sölle hat der protestantischen Theologie in Deutschland ein eigenes Gesicht gegeben, ja, sie war eine der wichtigsten theologischen Lehrerinnen unserer Zeit. Ihr streitbares Auftreten auf Kirchentagen, ihr Engagement in der Friedensbewegung und für die Bewahrung der Schöpfung, ihr Eintreten für Gerechtigkeit, ihr Protest gegen Krieg und Gewalt verweisen auf eine Theologie mit gesellschaftlicher Relevanz. Sie entfaltete in ihren Reden, Essays und Gedichten eine Poesie der Hoffnung aus der Bibel. Ihr Denken und Handeln war für viele Menschen Ermutigung und Herausforderung, für andere durchaus unbequem.  Sie errang international und ökumenisch als Theologin hohe Aufmerksamkeit, wurde als Stimme deutscher Theologie in der Welt wahrgenommen. 

Was hat sie hinterlassen, was ist wichtig weiterzugeben? 

Es ist ihre radikale Ermutigung zur Phantasie des "Lebens in seiner Fülle". Es ist ihr Mit-leiden und das Bedürfnis, Sinn zu erfahren und Sinn zu stiften. In ihrem Credo heißt es:

Ich glaube an gott
der die welt nicht fertig geschaffen hat
wie ein ding das immer so bleiben muss    
der nicht nach ewigen gesetzen regiert
die unabänderlich gelten
nicht nach natürlichen ordnungen
von armen und reichen
sachverständigen und uninformierten
herrschenden und ausgelieferten
ich glaube an gott
der den widerspruch des lebendigen will...

Sie wehrte sich gegen die Vorstellung der Allmacht Gottes. Sie baute nicht darauf, dass ein allmächtiger Gott alles richten werde. Sie glaubte an einen Gott, der die Menschen braucht. Sie holte Gott vom Himmel auf die Erde. 

Werkzeug des Friedens zu werden – das trieb Dorothee Sölle um. Sie solidarisierte sich mit den Armen, den Hungernden. Die Theologie der Befreiung in Südamerika war für sie ein deutliches Zeichen, dass Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können, dass nicht von Gott vorherbestimmt ist, Leidende und Unterdrückte zu sein. Sie wollte sich nicht mit Unrecht und Ungerechtigkeit abfinden. Sie erinnerte an das prophetische Wort, dass ein Volk ohne Vision zugrunde geht. 

Ihre Theologie war diesseitig, suchte eine neue Nähe von Theorie und Praxis, von Glauben und welthaftem Handeln. Sie entwickelte eine Theologie der Schöpfung, die den Menschen durch sinnerfüllte Arbeit herausfordert und eine Versöhnung mit der Natur intendiert. "Das Wesen der Schöpfung ist nicht Tod und Gleichgültigkeit, sondern Leben – Leben in seiner ganzen Fülle."

Dorothee Sölle - Reden und Handeln

Sölles prophetisches Reden und Handeln, der dialogische Charakter ihrer Theologie hat Anstöße gegeben, lässt viele Menschen weiterhin für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung eintreten und arbeiten. Ihre Texte sind aktuell, nicht nur wegen der Schönheit ihrer Sprache, sondern auch wegen ihres dialogischen Charakters. Diese Theologie wollte den Glauben weder vom politischen Engagement noch vom Wissen oder von der Poesie getrennt haben. Sölle hat nie vergessen, dass von alters her die Sprache der Religionen die Sprache der Symbole, der Visionen, der Bilder sind. Deshalb bedarf die religiöse Sprache der Poesie. 

Ihr couragiertes und kompromissloses Eintreten für Gerechtigkeit, gegen Krieg und Gewalt, für den Frieden und die Bewahrung der Schöpfung war ansteckend. Und das ist für viele so geblieben. Von Dorothee Sölle ging und geht eine Kraft aus, die weiterlebt. Wenn ich Vorträge über Dorothee halte, merke ich: Ihr Geist lebt weiter. Das, was sie wollte, wird weitergetragen. Sie wird rezipiert, z.B. an vielen theologischen Fakultäten und Akademien, in Dissertationen, in Vorträgen, in Predigten und Lesungen.  

Sölle lebt, sie ist präsent in dem, was sie gewollt hat. Dafür leben und arbeiten in ihrem Sinn zahlreiche Menschen. Sie hat Wegzeichen der Hoffnung gesetzt, sie war eine Anwältin der Gerechtigkeit. Das wird sie bleiben. In vielen Teilen der Erde wird an sie erinnert, an diese "feurige Wolke in der Nacht".

Gespräch von Dorothee Sölle mit Fulbert Steffensky

Dorothee Sölle spricht über die staunenden, ekstatischen Augenblicke von Glück, nicht von oberflächlicher Selbstversessenheit. Sie meint mit Glück das radikale Staunen über die Wunder dieser Schöpfung. Sie beschreibt Glück aus der christlichen Tradition heraus, aber auch in kritischer Distanz zu dieser Tradition, die gerade im Protestantismus Vorbehalte gegen das Glücksverlangen des Menschen kennt.

Auf der Sölle-Webseite kann ein heiter-kontroverser Dialog mit ihrem Mann Fulbert Steffensky aus dem Jahr 2003 angehört werden. Es war Dorothee Sölles letzte öffentliche Aussprache über Glauben, Mystik, Widerstehen und das Glück. Hier geht es zu den Audio-Dateien.

Veranstaltungen zum 20. Todestag von Dorothee Sölle

Zum 20. Todestag am 27. April 2023 finden zahlreiche Veranstaltungen statt, die an die berühmte evangelische Theologin Dorothee Sölle erinnern.

28.02. -  19.04.2023, Online (Zoom): Dorothee Sölle – Theologin, Poetin, Mystikerin (Online-Vortragsreihe)

1. Abend Di 28.02.2023, 19.00 Uhr: Die Theologin Dorothee Sölle - Einblicke in ihr Leben mit Bettina Hertel, Theologin und Psychologin

2. Abend Di 21.03.2023, 19.00 Uhr: Dorothee Sölle - Die Quelle ihrer Theologie: Mystik und Widerstand mit Swantje Amelung, Wissenschaftliche Hilfskraft, promoviert zu Dorothee Sölle

3. Abend Mi 19.04.2023, 19.00 Uhr: Dorothee Sölle - Was bedeutet ihr Vermächtnis heute? mit Pfarrerin Prof. Dr. Elisabeth Hartlieb

Hier geht es zur Anmeldung

Sa 22.04.2023, 10:00 – 17:00 Uhr

Mystisch-politischer Thementag zu Dorothee Sölle, Präsenzveranstaltung im Haus am Dom, Frankfurt/Main mit:

  • Dr. Margot Käßmann, Theologin, Theologin, ehemalige Bischöfin und Vorsitzende der EKD, Hannover
  • Johanna Jäger-Sommer, Publizistin und Journalistin, Saarbrücken
  • Pierre Stutz, Theologe, Poet, Autor, Osnabrück
  • Prof. Dr. Fulbert Steffensky, 34 Jahre verheiratet mit Dorothee Sölle, Luzern
  • Jutta Lehnert, Theologin, Sölle-Preisträgerin 2013, Koblenz
  • Dr. Julia Lis, Theologin, Institut für Theologie und Politik, Münster

 Anmeldung: Leserinitiative Publik-Forum 29 € / 19 €

 

Weitere Veranstaltungen finden Sie auf der Dorothee-Sölle-Seite unter diesem Link.

Dorothee-Sölle-Preis

Der Dorothee-Sölle-Preis sucht Personen, die ihr christliches Engagement aus der politischen Verantwortung für unsere Gesellschaft herleiten und darin die Erinnerung an die Radikalität des Jesus von Nazareth wach halten: Sie setzen sich ein für Befreiung und Toleranz und erheben Einspruch gegen die Ausgrenzung von Menschen in Kirchen und Gesellschaft. Sie demaskieren die Strukturen von Gewalt und erarbeiten kreativ Möglichkeiten widerständigen Verhaltens. Sie reflektieren die christliche Dimension ihres politischen Handelns und lassen daraus neue Ideen und neuen Mut für ihr Engagement wachsen – zivil und ungehorsam, energisch, ehrlich und fromm ...  Die Auszeichnung wurde allerdings 2015 zuletzt verliehen.

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