Seit ziemlich genau einem Jahr gibt es den #himmelwärts-Blog jetzt. In meinem Fall eine Mischung aus Selbstoffenbarung, Kirchturmblick und Pralinenschachtel. Hochgradige Selbstbespiegelung innerhalb des Mikrokosmos Kirche und trotzdem der Versuch, etwas Relevantes zu sagen: Zum Leben, für die Seele, für den Glauben an Gott.

Und irgendwie schreibe ich meine Beiträge immer mit dem nagenden Gefühl, dass es doch so viel Wichtigeres zu sagen und zu schreiben gäbe. Ich würde hier wirklich sehr gern monatlich Lösungen bieten statt nur Gedanken: Zum Pflegenotstand, zur Altersarmut, zum Umgang mit der Pandemie ohne die Gesellschaft zu zerreißen. Nicht nur immer das, was ich fühle, befürchte oder vermute.

Ich sehne mich nach objektiven Tatsachen, Maßstäben und Präzedenzfällen, die über mich selbst und meinen Kirchturmblick hinausgehen. Mehr Statistik, weniger Kommentar. Mehr allgemeingültige Wahrheit und weniger "bei mir ist das so." 

Kann Selbstfürsorge gleich Nächstenliebe sein?

Die Autorin Svenja Gräfen verteidigt sich am Anfang ihres neuen Buchs "Radikale Selbstfürsorge" ähnlich wie ich heute dafür, dass sie "nur über sich selbst" schreibt. Und kommt dann zu dem Schluss: "Gerade weil alles so ungeheuer verstärkt und superlativ ist, weil die Umstände so dermaßen ungünstig sind, ist auch Selbstfürsorge umso relevanter geworden. Jetzt erst recht – denn Selbstfürsorge, radikale Selbstfürsorge, ist nötig, um zu überleben, dabei nicht durchzudrehen und auch weiterhin dafür kämpfen zu können, dass sich etwas verändert. Weil gesellschaftlicher Wandel nur dann stattfinden kann, wenn wir lernen, auf möglichst nachhaltige Weise auch für uns selbst zu sorgen."

Ich glaube, Svenja Gräfen schreibt gar nicht nur das ICH groß. Sondern auch das DU. Ich behaupte, ein Buch über Selbstfürsorge kann ein Buch über Nächstenliebe sein. Genauso wie Texte, die mit mir anfangen, auch bei Dir aufhören können. Bei der Welt ankommen können. Gott berühren können.

Es ist eben nicht nur "unsere kleine Welt"

Denn ich bin zwar auf mich zurückgeworfen. Aber damit eben auch auf die, die mein Leben mit mir leben. Meine Familie, die Arbeit in der Kirche, Freund*innen. Und dann geht es los: Dann kommen die Lieferketten meines Lebens: Die gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir um Macht und Anerkennung kämpfen.

Am Schreibtisch, mit glühenden Wangen am Telefon mit den Vorgesetzten. Meine Antwort, mein Versuch, meine Priorität - und damit eine Entscheidung für andere. Es kommt der Moment, in dem ich entscheiden kann, was und wo ich einkaufe. Ob ich dabei mit dem Kassierer spreche oder meine Kopfhörer nichtmal abnehme.

Und nein, das ist eben nicht nichts. Es ist alles, was wir haben. Es sind genau die Momente, in den wir in unserem Hier und Jetzt etwas verändern.

Es ist eben nicht nur "unsere kleine Welt": Unsere Alltagsentscheidungen sind genau die drei Minuten, in denen wir dem Leben eine andere Farbe geben. Oder Farbe abkratzen. Oder neu tapezieren. Oder ganze Wände einreißen. Das ist kein Rückzug aufs Private, das ist Hingabe. Eine Hingabe an den Teil der Welt, wo ich etwas ändern kann. Und es ist damit ein Akt radikaler Liebe.

Das Doppelgebot der Liebe

Es ist der erste Teil der Antwort auf die Frage in der Bibel, was denn das höchste Gebot sei:

"Du sollst Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft lieben."

Das ist die Antwort auf die Frage nach dem ersten Ziel, dem wichtigsten Gut, der höchsten Priorität für einen Christenmenschen.

Du sollst Gott lieben an dem Ort, an dem Du bist. Seine Welt nicht aufgeben. Deine Augen nicht vor der Welt verschließen. Hinschauen und Dir vielleicht die Finger an der Glut verbrennen. Aber niemals weglaufen. Es ist radikal, so zu leben. Und wiederum unerträglich schwammig ohne den zweiten Teil der Antwort:

"Das andere Gebot ist dies: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst."

Die Liebe lässt verändert zurück

Und nein, das ist nicht der leichtere Teil. Es ist vielmehr der Teil, wo es nicht um objektive Wahrheiten, sondern um Fingerspitzengefühl geht. Jetzt. Hier. Bei mir. Die Hingabe an Gott berührt wie mit den Fingerspitzen die Liebe zu mir selbst. Und damit die Liebe zum Anderen. Dem Nächsten hinter der Glasscheibe. Es ist eine zarte Berührung, so flüchtig und so sanft, dass sie keine Druckstellen hinterlässt und Dich trotzdem berührt und verändert zurück lässt.

Der Moment wo ich es wage, mit Liebe auf mich zu schauen und zu sehen, was ich brauche, vergessen will oder suchen muss ist genau der Moment, in dem ich mich rückhaltlos hingebe: An Gott und das Leben, das er in mir sieht. Und in diesem Moment berührst Du mit den Fingerspitzen das Leben eines anderen Menschen. An seiner Schulter. Auf dem Bildschirm. In Gedanken. Schweigend und weinend, redend, erschöpft, hellwach und voller Mut. Der Moment, wo Du Dir selbst in die Augen siehst, ist Deine Hingabe an Dich. Und ich glaube inzwischen, dass es unmöglich ist, in solchen Momenten der Klarheit mit sich selbst nicht genau so klar und hellsichtig auf andere zu sehen. 

Nächstenliebe ist …

Unsere Nächsten finden wir nur dann, wenn wir uns selbst nicht aus dem Blick verlieren. Es ist nicht Nächstenliebe, zu vergessen, dass Du in Deinen eigenen Schuhen laufen musst. Es ist nicht Nächstenliebe, das eigene Leben als "nicht so schlimm" zu bezeichnen, wo es matt und trostlos ist, weil es anderen noch schlechter geht. Die Bibel spricht von unseren Nächsten, weil sie uns nahe sind - sie sind uns ähnlich und sie sind am selben Ort, im selben Leben. Und in diesem Leben sind es wir selbst, die aufstehen müssen und leben. Wir können das nicht outsourcen an jemanden der oder die es besser kann. Weder die Liebe zu Gott, noch die zu uns selbst, noch die zu unseren Nächsten. 

Liebe in drei Richtungen

In alle drei Richtungen geht es um Hingabe und radikale Fürsorge: Mit Fingerspitzengefühl und Augenmaß. Einem Gespür für den richtigen Zeitpunkt und Ohren für Zwischentöne. Es ist kein Widerspruch, sich um sich selbst, Gott und andere gleichermaßen zu sorgen. Aber es ist verdammt schwer. Denn wir selbst sind der Referenzpunkt, der Maßstab dafür, ob es uns in diesem Leben gelingt, nicht an uns und der Welt zu verzweifeln. Und das braucht einen manchmal übermenschlichen Mut.

Über Selbstfürsorge, das Gefühl der Überforderung angesichts der Krisen der Gegenwart zu schreiben oder unter einem Hashtag von der eigenen Erschöpfung zu erzählen, ist eben nicht Ausdruck einer egoistischen und verweichlichten Generation, sondern beweist Mut: Mut, die Liebe zu sich selbst genauso ernst zu nehmen wie die zu den anderen. Mut, dem Leben den Schleier zu nehmen und Mut, den Nächsten nahe, ganz nahe an mich heranzulassen - auf die Gefahr hin, dass seine Tränen und sein Schmerz mich berühren und verändern. Radikal und mit Nachdruck.

Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen. (Mt. 25, 35-36)

"Gesichter der Nächstenliebe" - Lagois-Fotowettbewerb 2021

Dass ein Mensch einem anderen Menschen vorbehaltlos hilft, ist nicht selbstverständlich. Vor allem in der Krise bewährt sich ein ethisches Konzept, das fast alle Religionen und humanistisch geprägte Gesellschaften der Welt kennen – das Konzept der Nächstenliebe.

Der Lagois-Fotowettbewerb 2021 sucht herausragende fotografische Arbeiten zum Thema. Der Wettbewerb umfasst ein Preisgeld und ein Stipendium in Höhe von insgesamt 5.000,- Euro, einen Katalog und eine Wanderausstellung. Der Fotopreis hat zwei Kategorien und richtet sich an Profifotografen sowie Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 27 Jahren.

Die Schirmherrschaft hat der Regionalbischof für München und Oberbayern, Christian Kopp, übernommen. Kooperationspartner des Wettbewerbs sind die Evangelische Jugend in Bayern (ejb) und das Diakonische Werk Bayern sowie die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern. Medienpartner sind die Druckerei Pigture, die Evangelische Medienzentrale Bayern (EMZ) und das Sonntagsblatt.

Alle Informationen finden Sie auf der Webseite.