Wenn Menschen mich fragen, was den größten Teil meiner Arbeit als Pfarrerin ausmacht, würde ich sagen "Seelsorge".
Obwohl ich im letzten Jahr nur vier echte, richtige, analoge, lange, intensive Seelsorgegespräche geführt habe. Für die sich jemand bei mir gemeldet hat, wir einen Termin verabredet haben, uns getroffen oder telefoniert haben. Aber die Seelsorge ist dazwischen.
Die Seelsorge ist dazwischen, zwischen...
Zwischen den Zeilen des Arbeitsblatts für meine Schüler*innen in der Grundschule, wenn ich frage, welche Farbe eigentlich die Angst für sie hat. Die Seelsorge ist zwischen den Worten der Predigt, zwischen den drei Atemzügen in der Kirchentür, die der Mann mir gegenüber braucht, um nochmal "Auf Wiedersehen" zu sagen.
Meine Seele erhebt den Herrn, sie macht Gott groß, singt Maria in der Bibel. Meine Seele macht meinen Beruf zu einem Gottesdienst.
Und nicht nur meine Seele tut das, sondern viele. Ein berühmter Theologe hat einmal geschrieben, dass das das Besondere in der Kirche sei:
Dass alle miteinander sich gegenseitig um ihre Seelen sorgen.
Sie aufrichten, festhalten, abstauben, rosa lackieren, umpusten, zurecht rücken und in die Freiheit hinaushalten. Eine jede so, wie sie es braucht.
Manche brauchen Stille und Kerzen, andere einen trockenen Whiskey.
Manche brauchen dazu Stille und Kerzen und vielleicht sogar Weihrauch, andere brauchen die Matthäus-Passion, eine harte Kirchenbank und einen trockenen Whiskey. Und die allermeisten Menschen brauchen dafür andere Menschen, die auch still sind, sich auch am Ende des Konzerts die Tränen aus den Augenwinkeln wischen oder zumindest leise nicken am Ausgang. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger.
Es ist ein Einverständnis in das, was zwei oder dreißig in diesem Moment gerade gemeinsam haben, so vieles sie auch sonst in ihrem Alltag trennt. Es ist ein Festhalten an dem, was trägt und Hoffnung gibt, heute Abend bis morgen früh oder vielleicht auch länger. Seelsorge kann ohne Worte auskommen oder sehr viele brauchen. Das wissen alle, die Umarmungen vermissen und lange Kneipenabende.
Kirche ist aus der Sorge umeinander entstanden.
Für mich besteht die Kirche aus der Sorge um die Seele. Und ich bin ein bisschen froh, dass ich das sogar ganz biblisch begründen kann: Der Beginn der ersten christlichen Gemeinschaft, der Kirche, ist ja selbst aus Sorge umeinander entstanden: Die Sorge Jesu um die Menschen, die in ihren Rändern und Ecken lebten und laufen und sehen lernen wollten.
Seine Fürsorge für die Fischer, denen er vielleicht am liebsten ihre Netze um die Ohren geschlagen hätte, als sie so verzagt und ängstlich waren. Seine Sorge um die zerbrechliche Liebe der Menschen untereinander, die sich so leichtfertig gegenseitig verletzten und verhärteten.
Und nach Jesus soll es der Geist Gottes, der Tröster, der heilende Geist gewesen sein: Er hat daran erinnert, dass da, wo er weht, die Freiheit winkt. Und da ist er wieder, der Geist, der die Seelen aufrichtet und sie daran erinnert, dass ihre Sehnsucht danach, heil zu sein, ganz normal ist und gut. Und dieser Geist und diese Sorge um die Seele ist eben nicht exklusiv und wirkt nicht nur, wenn sie von Priestern oder Menschen im schwarzen Talar kommt.
Wo der Geist Gottes ist, da ist Freiheit, steht in der Bibel.
Und dass sie fehlt im Leben, ziemlich oft sogar, das steht da auch. Und das wissen wir ja auch selbst: Sie fehlt, wenn wir uns selbst in alten Grenzen einzäunen. Sie fehlt, wenn ich Angst haben muss, an meinem Lebenssinn vorbeizuleben. Sie fehlt in dieser Welt. Manchmal ist es auch Geld, Gesundheit oder die große Liebe oder das Kind, was fehlt. Aber hinter all dem steht meistens die Sehnsucht nach der Freiheit, das Leben führen zu können, nach dem wir uns sehnen.
Bei Gott ist die Sehnsucht gut aufgehoben.
Ich finde ja, bei Gott ist diese Sehnsucht gut aufgehoben. Weil der Glaube an Gott unsere Sehnsucht nicht zurück in unsere eigenen Hände legt. Stattdessen legen wir sie in Gebete, in Worte, in Kerzenlicht, stecken sie in die Ritzen der Holztüren, malen sie in die bunten Fenster und lassen sie aufsteigen in die Spitzen der Kathedralen und kauen auf ihr herum wie auf trockenem Brot.
Trinken von der Hoffnung und dem Glauben der anderen, wenn uns selbst jeder Trost fehlt. Ich könnte das nicht alleine. Ich könnte nicht alleine glauben. Ich brauche die anderen mit ihren rissig gewordenen Träumen, weil ich dann nicht alleine bin. Sie sorgen für meine Seele, ohne es zu wissen.
Wir wissen nicht warum, aber Glaube hilft.
Vielleicht ist das für mich das Geheimnis dieser großen Gemeinschaft, in der ich zu Hause bin: Es ist manchmal, als ob es alle wüssten und niemand zugibt - dass wir an Gott glauben wollen, weil wir nicht anders können und dass wir es nicht können und es trotzdem tun.
Und wir sitzen alleine in den Kirchenbänken mit geschlossenen Augen manchmal und 1,5 m dazwischen und alleine vor unseren Bildschirmen und ich stehe alleine in der offenen Tür und male ein Kreuz auf die Stirn meiner Tochter. Und das tun viele und wissen nicht, warum, nur, dass es hilft: Beim Loslassen, beim Aufrecht stehen, beim Gehen, beim Erinnern, beim Weitermachen.
"Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Warte doch auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er mir hilft mit seinem Angesicht." (Psalm 42)
Oft darf ich zuhören, wenn Menschen mir sagen, was ihre Seele betrübt, was sie so unruhig macht. Und dann warten wir zusammen auf Gott, dass er uns hilft mit seinem Angesicht. Und solange sehen wir uns gegenseitig an und ich rede ein bisschen von dem, was ich weiß und was ich hoffe und versuche, zu schweigen, damit genug Platz ist für das, was wir doch beide noch nicht wissen.
Klar hab ich in der Ausbildung gelernt, wie das geht. Verstanden hab ich es immer noch nicht ganz. Woher das Vertrauen in uns Pfarrer*innen kommt zum Beispiel. Warum es immer noch so viele Menschen gibt, die trotz Yoga und Achtsamkeit und trotz Vollzeit-Job und Home-Office und trotz all unserer blinden Flecke als Kirche uns Pfarrer*innen noch eine Chance geben, dass wir uns um ihre Seele sorgen dürfen.
Ich bin dankbar dafür, sehr sogar. Und ich weiß meine Seele in guten Händen. In meiner Kirche und bei den Menschen, die sie mit ihrem Glauben und ihrem Zweifel füllen. Und bei Gott.