Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 war das Fundament für die demokratische und freiheitliche Entwicklung unseres Landes gelegt. Diese Erfolgsgeschichte liegt im Wesentlichen im Kern unserer staatlichen Verfassung begründet: Nicht der Staat ist das Maß der Politik, nicht eine Partei oder eine bestimmte gesellschaftliche Klasse; im Mittelpunkt steht der Mensch mit seiner unantastbaren Würde.

Demokratie kennt keinen Totalitätsanspruch. Ein demokratischer Staat darf keine Gesellschaftsbereiche für seine Zwecke vereinnahmen – so auch nicht die Kirchen. Das ist eine der zentralen Lehren des 20. Jahrhunderts, das ist auch eine der Kernbotschaften der Barmer Theologischen Erklärung.

Barmen bis heute wichtiger Wegweiser

Die Bekenntnissynode 1934 in Barmen setzte ein Zeichen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, der sich anmaßte, »totale Ordnung menschlichen Lebens« sein zu wollen, wie die Delegierten in ihrer Theologischen Erklärung festhielten. Sie sprachen sich gegen eine Kirche als »Organ des Staates«, als Dienerin einer Ideologie aus. Zwar vertrat die Bekenntnissynode nur eine Minderheit der deutschen Protestanten, aber sie bewahrte die evangelische Kirche vor der Selbstaufgabe und verlieh ihr damit auch nach 1945 Kraft und Glaubwürdigkeit. So vielfältig die Beweggründe der Delegierten für ihre Teilnahme an der ersten Bekenntnissynode auch waren, so einte sie doch ihr christlicher Glaube, der sie in Barmen zur Verfassung einmütiger Botschaften führte. »Fürchtet Gott, ehret den König« – mit diesem Bibelzitat zogen sie in ihrer Erklärung eine klare Grenze im Verhältnis von Kirche und Staat. Gott allein ist die Instanz, die Orientierung und Halt bietet.

In Ihm definiert sich der Mensch als sein Ebenbild. Ihm gebühren Demut und Ehrfurcht. Der Staat beziehungsweise die weltliche Ordnung hingegen, die das vergängliche irdische Zusammenleben regeln, verdienen angesichts allgemein verbindlicher Gesetze Respekt. Doch sobald eine politische Macht Furcht verbreitet, überschreitet sie ihre Grenze. Ein Staat, den Menschen fürchten müssen, verfehlt seine Bestimmung. Denn er überhöht die keineswegs fehlerfreie menschliche Urteils- und Entscheidungsmacht.

Die Barmer Theologische Erklärung ist auch heute ein wichtiger Wegweiser zur klaren Unterscheidung zwischen dem Auftrag der Kirche und den Aufgaben des Staates. Ihr zufolge hat der Staat »nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen«. Dabei steht das Recht im Dienste der Gerechtigkeit. Was aber ist gerecht? Hier zeigen sich Grenzen staatlichen Handelns. Denn menschliche Fehler und Schwächen sind niemals auszuschließen. Ohnehin kann sich staatliches Handeln nur innerhalb gewisser Leitplanken vollziehen, die es selbst nicht schaffen kann.

Kirche als moralischer Kompass

Ethisch-moralische Standards kann Politik nicht selbst setzen, sondern nur aufnehmen. Indem aber die Kirche aus christlichem Glauben heraus moralische Ansprüche vertritt, kann sie der Politik eine richtungsweisende Partnerin sein. Im Barmer Bekenntnis heißt es zu diesem Auftrag der Kirche: »Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.« Dieses Wechselspiel weltlichen und geistlichen Wirkens ist für eine funktionierende, stabile Demokratie wesentlich, in der tagtäglich grundlegende Werte gelebt und nicht mit Füßen getreten werden. Als demokratischer und freiheitlicher Staat bietet die Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit, unterschiedliche Weltanschauungen und Glaubensbekenntnisse zu integrieren, auch wenn die jüdisch-christliche Tradition prägend bleibt.

Ob Jude, Moslem oder Christ, ob gläubig oder nicht – wir alle stehen in gemeinsamer Verantwortung für unser Land und seine Zukunft. Dazu, dieser Verpflichtung nach bestem Wissen und Gewissen nachzukommen, ermahnt und ermutigt uns die Barmer Theologische Erklärung auch heute.