Manche Gegenstände begleiten uns ein ganzes Leben. Ringe, Festtagsanzüge oder Instrumente. Manche erfahren mehr über uns als unsere Nächsten, darunter Tagebücher, mittlerweile auch Laptops und Handys.
Die Autorin Luna Al-Mousli schreibt über ihre Familie, ihre Großeltern, Tanten und Onkel in Syrien aus Sicht eben dieser Dinge: eines Notebooks, einer gerahmten Promotionsurkunde, einer Oud, einer nahöstlichen Laute, einem Anzug und eines Schlüssels. Sie berichtet vom Leben auf dem Dorf in Syrien, vom Weg in die Hauptstadt, dem Einzug des Krieges, von Flucht und vom Bleiben – aus Sicht von Gegenständen.
Leidenschaft und Rastlosigkeit
Und Al-Mousli erzählt so lebendig, so bewegend, so nah an den Menschen, dass sie den Leser tief in den syrischen Alltag eintauchen lässt. In der ersten Geschichte berichtet der neue Laptop einer 63-jährigen Dame, die bereits Mutter und Großmutter ist, von ihrem Weg zur politischen Aktivistin auf Social Media im Arabischen Frühling. Er erzählt von ihrer Leidenschaft, Rastlosigkeit und Aufopferung aus dem Exil in Wien heraus:
"Sie wollte informiert bleiben. Denn was im arabischen Raum geschah, war etwas wovon sie nie zu träumen gewagt hatte. Ein Frühling wie kein anderer."
Dabei verfolgt die Dame, wo sich die Menschen versammeln, checkt Uhrzeiten und Straßen, Schilder der Demonstranten und auch ihre Forderungen. Denn ihre Schwester und ihr Bruder sind in den Aufstand in Damaskus involviert, ihr Bruder landet am Ende im Gefängnis.
Aus Sicht des Computers erfahren wir mehr als die ganze Familie: von ihrer Jugend, wie sie sich gegen ihre Eltern, das Getratsche der Nachbarn und das Dorf durchsetzte. Wie sie als erste Frau die Oberstufe besuchte, in einer nahegelegenen Schule am Dorfrand. Dann studierte, gegen den Willen ihrer Mutter, in Damaskus, bei ihrer Schwester. Und von den "Gedichten, die sie nachts schrieb, aber nie jemandem vorlas" und die nur der Laptop kennt.
Am Ende der Erzählung kippt die Lage in Syrien, die ältere Dame verliert die Distanz zu den Ereignissen in ihrer Heimat, zu dem Leid. Ihre Töchter suchen das Gespräch, aber Oma lässt sich nicht beirren. Am Ende bleibt ihr nur noch die vielen Orte zu googlen, an denen ihre Familie strandet.
Vom Bauern zum Arzt
Die zweite Geschichte wird aus Sicht einer Promotionsurkunde erzählt, eingefasst in einen dicken, goldenen Bilderrahmen. Sie gehört einem jungen Mann, Said – der Fröhliche, der einst auf einem Bauernhof aufgewachsen ist, als zweites Kind einer vierzehnköpfigen Bauernfamilie, und der es im Ausland bis zum Arzt geschafft hat.
Dabei brachte ihn ein Zufall zur Medizin: Als Jugendlicher muss er auf dem Feld unerwartete einer Kuh beim Kalben helfen – und findet damit seine Bestimmung. Jahre später kommt der Vater zur Verleihung der Promotionsurkunde nach Wien. Zwar kann er die Urkunde nicht einmal lesen, aber er ist stolz auf seinen Sohn.
Die dritte Geschichte erzählt eine Oud, eine Kurzhalslaute, die unter den nahöstlichen Saiteninstrumenten als das flexibelste und dynamischste Instrument gilt. Dabei fing es mit dem Besitzer gar nicht gut an:
"Er hasste mich (…) Eine Begleiterin, die ihm aufgezwungen wurde – das sei ich. Zu altmodisch, zu kompliziert."
Doch dann bricht der Krieg über Syrien herein und der junge Mann muss fliehen. "Vermutlich war es ein Versehen, dass er mich mitnahm", erzählt die Oud. Der Mann verlässt die Stadt, dann das Land. "Er musste wieder ganz von vorn anfangen, sich ein neues Leben aufbauen." Die Oud wird zum "Compagnon de misère", zur Möglichkeit, die neue, fremde Welt hinter sich zu lassen – sie führt ihren Besitzer sogar auf die Bühne. Doch das Heimweh bleibt, das Exil zehrt an den Kräften.
"Eine innere Zerrissenheit ließ ihn nicht zur Ruhe kommen (..) Sein Zweispalt wurde größer und weckte alte Dämonen und Zweifel auf, die in meinem Bauch Zuflucht fanden," berichtet die Oud. Schuldgefühle gegenüber den Daheimgelassenen. Schuldgefühle, in der neuen Heimat nicht glücklich zu sein. Vor den Auftritten ein Ritual, erst einen Joint, dann eine Zigarette, Mut antrinken. Bis alles zu viel wird und die Partnerschaft zerbricht.
Die vierte Geschichte erzählt aus Sicht eines Festtagsanzugs sehr eindringlich vom Krieg, der auf einmal in Damaskus in das Leben der Familie hereinbricht. Der Anzug, reserviert für besondere Anlässe, gehört einem unscheinbaren Mann. Er wird für Feierlichkeiten der Familie herausgeholt, ebenso wie die mit Pailletten und Perlen bestickten Kleider seiner Frau. Freudige Anlässe sind es, die sie miterleben, Hochzeiten, Universitätsabschlüsse.
Bis der Krieg kommt und der Kleiderschrank zum Stauraum für Schmuggelware wird, für in Damenbinden versteckte Medikamente. Denn "manche Polizisten erröteten vor Scham, wenn sie eine Frau, die ihre Mutter hätte sein können, durchsuchten und dabei Damenbinden (…) vorfanden." Doch die heimliche Hilfe fliegt auf, die Wohnung wird Schauplatz einer Razzia, Beerdigungen folgen, Bombeneinschläge. Der Festtagsanzug wird schließlich zur Flucht wieder angezogen, schwarz, unauffällig. Doch sein Träger fliegt auf.
Der Schlüssel des Lebens
In der fünften und letzten Erzählung von "Um mich herum Geschichten" erzählt ein Schlüssel von einem Ehepaar mit sieben Kindern. Der Schlüssel öffnet die Tür zur ersten eigenen Wohnung, berichtet von den jungen Jahren, den Möbeln, Besuchen und Feiern. Von Freude und Geselligkeit, bis hin zum Einzug von Trauer, Krieg und Zerstörung. Die Wohnung wird zum Unterschlupf für Flüchtende, für Untergetauchte. "Das Kommen und Gehen wurde zum Verstecken und Warten. Bekannte von Bekannten kamen mit keinen Koffern für wenige Tage oder kurze Nächte." Bis am Ende alle gehen und nur die Frau bleibt.
Der Roman mit 150 Seiten kostet 16,- Euro. Mehr Informationen zu Roman und Autorin gibt es auf der Verlagsseite.
Autorin: Luna Al-Mousli
Luna Al-Mousli, geboren 1990, aufgewachsen in Damaskus, lebt heute in Wien. Sie erzählt aus ungewöhnlicher, aber eindringlicher Perspektive, wie Syrien gerochen, geschmeckt und geklungen hat. Und was seine Menschen, die heute im Exil leben, heute vermissen, wonach sie sich sehnen und was ihnen fehlt. Al-Mousli fängt das Syrien ihrer Großeltern mit viel Lebensfreude, mit viel Hoffnung und Zuversicht ein, aber auch die Entbehrungen der Exilanten, die Zerstörungen und die Brutalität des Krieges. "Um mich herum Geschichten" ist ein wundervoller Erzählband, authentisch und gefühlvoll geschrieben, der aktueller nicht sein könnte, angesichts der vielen Flüchtlinge auf der Welt.