Den Begriff Demenz-Dorf mag Anke Franke gar nicht. Lieber nennt die Geschäftsführerin der Diakonie Lindau das Projekt bei seinem künftigen Namen: "Hergensweiler Heimelig". So heißt die geplante Wohnsiedlung für Menschen mit Demenz, die die Diakonie Lindau in dem kleinen Ort Hergensweiler nordöstlich von Lindau errichten möchte. Insgesamt 128 Demenzkranke sollen dort irgendwann in 16 Wohngruppen betreut leben und sich auf dem Areal frei bewegen können. Es wäre ein in Deutschland einzigartiges Projekt, meint Anne Franke, die in Lindau das Maria-Martha-Stift leitet, ein Alten- und Pflegeheim der Diakonie.
Frau Franke, das Maria-Martha-Stift ist für sein modernes Konzept und den Umgang mit Menschen mit Demenz schon mehrfach ausgezeichnet worden. Warum braucht es noch ein Projekt wie Hergensweiler Heimelig?
Anke Franke: Tatsächlich leben wir Teile des Konzepts, das für Hergensweiler Heimelig gelten soll, auch schon im Maria-Martha-Stift. Wir versuchen dort ein Umfeld zu schaffen, das einem Leben zu Hause nahekommt. Wir sind ein offenes Haus, lassen spontane Aktionen zu. Es gibt vielfältige Angebote für die Bewohner. Wir haben Kooperationen mit Organisationen außerhalb des Hauses, etwa einer Tanzschule, zu der wir hingehen. Und doch mussten wir feststellen, dass das in manchen Fällen nicht ausreicht: Menschen mit Demenz, die einen starken Bewegungsdrang, eine Weglauftendenz haben, können Sie damit nicht gerecht werden.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Franke: Wir hatten eine Dame mit einem GPS-Sender ausgestattet, damit wir sie orten können, falls sie wegläuft. Sie hatte es zuvor schon einmal geschafft, mit einem Bodensee-Schiff bis in die Schweiz zu fahren. Als sie dann den Sender hatte, haben wir das Signal eines Tages im Gleisdreieck bei Lindau gesichtet. Der Bahnverkehr musste für eine halbe Stunde stillgelegt werden. Da ist uns klar geworden, dass wir in unserem Heim solche Menschen eigentlich nicht betreuen können.
Was passiert dann mit ihnen?
Franke: Wir müssen solche Bewohner an geschlossene Heime abgeben. Dort werden sie auf eine sehr enge Umgebung beschränkt. Das ist für diese Menschen, die sich ja unbedingt bewegen wollen, etwas sehr Schlimmes. Manche werden dann aggressiv. Die Folge ist meist, dass sie mit Medikamenten ruhig gestellt werden. Was wiederum oft dazu führt, dass sie sich so gut wie gar nicht mehr bewegen. Das bedeutet, dass ihre Muskeln unter Umständen verkümmern, und sie zum Teil nicht mehr gehen können.
Das klingt sehr extrem ...
Franke: Ja. Aber es gibt diese Extremfälle. Und man darf sich keine Illusionen machen: Der Alltag in deutschen Pflegeheimen sieht so aus, dass viele Bewohner medikamentös eingestellt werden. Das bedeutet oft nichts anderes, als sie zu betäuben. Studien zeigen, dass davon etwa die Hälfte aller Bewohner betroffen sind. Nahezu ähnlich viele werden fixiert oder auf einen engen Raum begrenzt. Dahinter steckt kein böser Wille. Es geschieht oft, weil die Pflegenden Angst haben, den Bewohnern könnte sonst etwas passieren.
Und in Hergensweiler Heimelig wäre das alles anders?
Franke: Bevor wir das Konzept für Hergensweiler Heimelig erarbeitet haben, haben wir ein Modellprojekt in den Niederlanden besucht. In Homepage des niederländischen Projekts De Hogeweyk leben jeweils sechs Menschen mit Demenz in kleinen Häusern. Es ist ein umgrenztes Gelände, auf dem man sich frei bewegen kann. Wer nach draußen möchte, kann einfach vor die Tür gehen. Es gibt großzügige Gärten mit Teich, mit Blumen, ein Theater, in dem kulturelle Veranstaltungen stattfinden, einen Supermarkt, ein Café. Das alles wird auch von Menschen von außerhalb der Siedlung genutzt.
Und so soll es auch in Hergensweiler Heimelig sein?
Franke: Bei uns sollen acht Bewohner in einer Wohneinheit leben. Auch in Hergensweiler Heimelig sollen sich die Bewohner frei bewegen. Sie sollen ihren Bewegungsdrang ausleben, aber nicht weglaufen können. Die räumliche Begrenzung soll dabei so natürlich wie möglich sein – mit Hecken, Sträuchern, dem Netz des angrenzenden Sportplatzes und dem Zaun um das Streichelgehege, das es auf dem Gelände geben wird.
Dennoch sagen Kritiker: Eine solche Siedlung schotte die Demenzkranken ab. Das widerspreche der Inklusion.
Franke: Das lasse ich nicht gelten. Wir schaffen bewusst Kontaktpunkte, wo sich die Bewohner mit Menschen von außerhalb der Siedlung treffen. Es wird einen Mittagstisch und Veranstaltungen geben, an denen jeder teilnehmen kann – und ein Gasthaus mit Biergarten, wo jeder hinkommen kann. Außerdem soll auf dem Gelände ein Kindergarten errichtet werden. Alt und Jung sollen sich dort auch treffen können.
Das Projekt soll 30 Millionen Euro kosten. Ist die Finanzierung schon geklärt?
Franke: Da sind wir noch in Gesprächen. Die Hauptfrage betrifft dabei zunächst aber nicht die Investitionskosten, sondern den Betrieb des Projekts. In Hergensweiler Heimelig nehmen wir ja Menschen auf, die für andere Heime eine Herausforderung darstellen. Für deren Betreuung brauchen wir mehr Personal als üblicherweise in einem Pflegeheim. Um das zu finanzieren, müsste Hergensweiler Heimelig als Modellprojekt anerkannt werden – mit einem höheren Kosten- und Personalschlüssel.
Glauben Sie, das Ihnen das gelingt?
Franke: Nicht mir allein. Die Frage, die wir uns alle stellen müssen, ist doch: Wie lange wollen wir akzeptieren, dass unsere alten Menschen eingesperrt und sediert werden, wenn sie an Demenz erkranken? Eine Gesellschaft ist nur so gut, wie sie ihre Schwächsten behandelt. Wir brauchen ein vielfältigeres Versorgungsangebot in der Pflege, um dem Bedarf des Einzelnen gerecht werden zu können. Dazu gehören moderne Pflegeheime ebenso wie ein Projekt wie Hergensweiler Heimelig. An der Finanzierung jedenfalls dürfen solche Lösungen nicht scheitern.
Zeitpunkt für den Startschuss noch offen
Das Wohnprojekt Hergensweiler Heimelig soll am Ortsrand von Hergensweiler entstehen. Die 2000-Einwohner-Gemeinde liegt etwa 10 Kilometer von Lindau entfernt. Hergensweiler Heimelig soll auf einem Areal von 30.000 Quadratmetern 16 Wohneinheiten umfassen, in denen jeweils acht Personen mit Demenz leben. Sie werden dort von Pflegerinnen und Pflegern der Diakonie betreut. Auf dem Gelände soll es auch einen Kindergarten, ein Gasthaus, einen Supermarkt und einen Friseur geben (Skizze oben). Die Einrichtungen können auch von Besuchern von außerhalb des Geländes genutzt werden: Bewohner und Gäste sollen sich mischen, meint Anne Franke von der Diakonie Lindau.
Wann der Startschuss für das Projekt fällt, ist offen. Im Januar gab es ein erstes Gespräch mit Vertretern des Freistaats, der Kassen, des Bezirks und der Regierung von Schwaben, um fachliche Fragen zu klären – etwa die Rekrutierung des Personals. Nach Angaben von Anne Franke gibt es bereits Anfragen für das Projekt – sowohl von möglichen Mitarbeitern als auch Bewohnern.