Erleben Frauen eine Sucht anders als Männer? In den Augen von Cornelia Schmidt und Sophia V. schon. Während die eine als Pädagogin bei der Stadtmission in Nürnberg seit rund vier Jahrzehnten suchtkranke Frauen betreut, hat die andere ebenso lange bis zur Bewusstlosigkeit getrunken. Nachdem sie nun 24 Jahre lang »trocken« ist, will Sophia V. erstmals über frauenspezifische Alkoholsucht sprechen. Auch, weil nicht nur das Suchthilfezentrum der Nürnberger Stadtmission immer mehr Frauen betreut.
Frauen konsumieren diskret. Das liegt an den Rollen, die sie in Familie, Job und dem Alltag oft ausfüllen müssen. Und sie konsumieren oft, um zu funktionieren. Das hat die 71-jährige Sophia V. den größten Teil ihres Lebens hart am eigenen Leib verspürt. Schon als Kind ist das so, als das kleine Mädchen und seine Schwestern unter den Prügeln und sexuellen Übergriffen des Vaters zu leiden haben. Darüber reden, handeln, anklagen? Das ist ein Tabu! Die Mädchen nehmen das Leid stillschweigend hin. Aus Angst, aus Scham. Und weil es ohnehin niemanden gibt, der es hören will.
Frauen und Sucht: Hilfe finden im Suchthilfezentrum
Mit zwölf Jahren kommt der Alkohol in das Leben von Sophia V. Ein Umzug steht an, und der Teenager erwischt ein paar Flaschen Bier, die von den Männern des Umzugsunternehmens achtlos im Lkw versteckt waren. Sophia nimmt den ersten Schluck. »Sofort war der Kontrollverlust da. Ich hatte endlich etwas gefunden, mit dem ich mich aus meinem beschissenen Leben kurzzeitig mal wegmachen kann«, beschreibt sie dieses Erlebnis.
Von da an sollte Alkohol der ständige Begleiter im Leben sein, die Fahrkarte in den Kurzurlaub einer idealisierten Welt. Der Pegel muss immer stimmen, dann gelingt Sophia V. so ziemlich alles. Ob im Beruf als Sozialarbeiterin oder in der Ehe. Getrunken wurde natürlich heimlich.
Mit der Zeit entwickelt sie ein hohes Maß an Kreativität, ihrer Umgebung die Frau vorzugaukeln, als die sie gerne erscheinen will: erfolgreich sein, alles im Griff haben, eine gute Ehefrau und Mutter sein. Eine Pause von der Flasche gönnt sie sich nur während ihrer Schwangerschaften und der anschließenden Stillzeit. »Ich wusste, dass ich meinen Kindern Furchtbares antue, wenn ich trinke. Dennoch habe ich es nicht geschafft, nach dieser jeweils anderthalbjährigen Pause vom Alkohol zu lassen«, erinnert sie sich.
»Die Sucht ist hinterhältig«
Jahrzehntelang hasst sich Sophia V. für ihre Sucht. Doch die ist immer stärker. »Die Sucht ist hinterhältig, überwältigt dich, wenn du gar nicht daran denkst.«
Ihren Mann interessiert dies wenig – »der konnte mich so besser kontrollieren und gefügig halten.« Die beiden sind schon lange geschieden. Ihm macht sie heute ebenso wie sich selbst Vorwürfe, sie nicht wach gerüttelt zu haben.
Nur ganz selten wird sie im Bekannten- oder Kollegenkreis auf ihre Sucht angesprochen. »Menschen vermeiden diese Art der Konfrontation. Und ich hatte mir auch immer ein ganzes Bündel an Ausreden zurechtgelegt, wie ich aus peinlichen Situationen wieder herauskomme«, erinnert sich Sophia V. In den Ärger über die schweigende, zuschauende Gesellschaft mischt sich bei ihr aber auch Selbstkritik. »Ich war mir selbst nie wichtig und habe mir und meinen Mitmenschen einiges zugemutet.«
Die Kinder merken meistens, wenn mit Mama wieder mal was nicht stimmt. Steigen beispielsweise nicht ins Auto ein, wenn sie vermuten, dass die Mutter bereits eindeutig zu viel intus hat. Heute sei das Verhältnis mit Tochter und Sohn hervorragend. Allerdings habe das lange gedauert und viele Gespräche gefordert, bis wieder ein Vertrauensverhältnis hergestellt war.
Depression, Suizidversuch, Psychiatrie
Wie sie manchmal ins Bett gekommen ist, daran kann sich Sophia V. nicht mehr erinnern. Auf dem Nachttisch stand in Griffweite zudem immer etwas zu trinken. Eines Nachts aber wacht sie auf und hat eine Eingebung: »Ab morgen nicht mehr«, sagt sie sich, noch im Halbschlaf. Vorgenommen, am nächsten Tag einfach nicht mehr zur Flasche zu greifen, das hatte sie sich öfters. Doch aus irgendeinem Grund klappt es diesmal.
Drei Jahre und zwei kurzzeitige Rückfälle später scheint sie »über den Berg« zu sein. Dann schleicht sich eine handfeste Depression kalt von hinten an. Sophia V. will sich das Leben nehmen, hat aber noch den Mut, sich in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie einweisen zu lassen. Das Erlebte und das verdaut Geglaubte muss intensiv aufgearbeitet werden. Mit Erfolg. Seitdem geht es ihr gut. Aber: »Wenn ich nur ein bisschen Alkohol zu mir nehmen würde, weiß ich, dass ich sofort wieder so schlimm drauf komme wie damals. Daher ist die Selbsthilfegruppe, die ich seit über zwei Jahrzehnten besuche, auch eine Art Lebensversicherung für mich«, sagt die Rentnerin.
Oft suchen sich Menschen, die ein so starkes Suchtverhalten an den Tag legten wie Sophia V., eine Art Ersatz für die überwundene Sucht. Bei ihr geht der Blick seither stark nach innen: Sie sei mittlerweile ein spiritueller Mensch geworden, sagt Sophia V.
Und wenn heute eine Situation kommt, aus der sie sich am liebsten mit dem Suff wegbeamen will? »Dann gehe ich in die Natur. Ich habe gelernt, dass man Situationen auch einfach mal aushalten muss, ohne sich zu betäuben. Das klappt am besten für mich draußen.« Wenn es mal »härter« kommt, zieht es Sophia V. auch gerne mal ein paar Tage ans Meer. Und selbst im Urlaub sucht sie sich dann hie und da eine Selbsthilfegruppe.
Alkoholsucht: Konsumieren, um zu funktionieren
»Männer dürfen trinken, Frauen nicht, so einfach ist das immer noch«, weiß auch Cornelia Schmidt. Zu ihr kommen nicht nur alkoholsüchtige Frauen. Viele kompensieren ihr mangelndes Selbstwertgefühl beispielsweise mit Kaufräuschen. Oder greifen zu Medikamenten.
»Industrie und Handel hinterfragen nicht, ob der Kunde ein nahezu krankhaftes Konsumverhalten an den Tag legt. Und viele Ärzte verschreiben kommentarlos Arzneien, obwohl sie eigentlich das Gespräch mit der Patientin suchen sollten. Dann würden sie diese aber mit einem nach wie vor brenzligen Tabuthema konfrontieren. Und die Frau vielleicht verlieren«, meint Schmidt.
Seit Jahren nähern sich in den Beratungsstellen der Nürnberger Stadtmission im Christine-Kreller-Haus die Zahlen der alkoholabhängigen Frauen deutlich denen der betroffenen Männer an. Im vergangenen Jahr hat die Stadtmission in Nürnberg 880 Personen in Sachen Alkohol, Drogen und Medikamente beraten, von denen fast die Hälfte Frauen waren. Im Suchthilfezentrum gebe es vor diesem Hintergrund frauenspezifische Behandlungsangebote. Der Stadtmission sei daran gelegen, diese häufig versteckte Suchtproblematik von Frauen stärker sichtbar zu machen und nicht zuletzt mögliche Lösungswege aufzuzeigen für einen Kreis Menschen, die mit sich immer noch in einer Tabuzone zu tun haben.
Dass immer mehr Frauen konsumieren, um zu funktionieren, zeige auch, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter noch deutliche Mängel hat.
INFO: Im Nürnberger Suchthilfezentrum gibt es für Frauen maßgeschneiderte Behandlungsangebote für Süchtige. Mehr unter: www.stadtmission-nuernberg.de/suchthilfe/suchthilfezentrum
INTERNATIONALER FRAUENTAG
Am 19. März 1911 fand in Dänemark, Deutschland, Österreich, der Schweiz und den USA der erste Internationale Frauentag statt. Die Wahl dieses Datums sollte den revolutionären Charakter des Frauentags unterstreichen, weil der 18. März der Gedenktag für die Gefallenen in Berlin während der Revolution 1848 war.
Hauptziel und -forderung war das Frauenwahlrecht. In den folgenden Jahren wechselte das Datum des Frauentags, bis es 1921 auf den 8. März festgelegt wurde. In Deutschland wurde das Frauenwahlrecht 1918 (genau wie in Österreich, Polen und Russland) im Reichswahlgesetz verankert. Im Januar 1919 konnten deutsche Frauen das erste Mal in der Geschichte wählen und gewählt werden.
Nachdem das Wahlrecht für Frauen errungen war, rückten andere Ungleichbehandlungen in den Mittelpunkt des 8. März, an dem Frauen mit Demonstrationen und Kundgebungen auf ihre Benachteiligung aufmerksam machten. Zentrale Forderungen waren Arbeitsschutzgesetze, gleicher Anspruch auf Bildung, ausreichender Schutz für Mütter und Kinder, gleicher Lohn für gleiche Arbeit oder legaler Schwangerschaftsabbruch.
Im heutigen Deutschland neu ins Bewusstsein gerückte Frauen- und Menschenrechtsverletzungen wie Genitalverstümmelungen und Ehrenmorde, denen in der Regel Frauen zum Opfer fallen, Zwangsheirat und -prostitution sowie Frauenhandel machen deutlich, dass Frauenrechte einklagbare Menschenrechte sein müssen.
Quelle: LpB Baden-Württemberg