Vorsichtig fährt die ältere Frau mit ihrem Rollstuhl rückwärts raus aus der Sackgasse. Links eine Baustelle, rechts geht es steil abwärts auf die Gleise. »Mein Rollstuhl hat einen zu großen Wendekreis«, erklärt Renate Holzmann. Wenn sie mit dem Zug fahren will, muss die Ansbacherin mindestens zwei Tage vorher bei einer kostenpflichtigen Hotline der Deutschen Bahn anrufen, um sich den nötigen Begleiter allein für den Ansbacher Bahnhof zu organisieren.
Gemeinsam mit vier Studentinnen der Technischen Universität (TU) München und einer weiteren Betroffenen bewegt sich Holzmann weiter in Richtung Ansbacher Innenstadt, denn auch dort warten viele Hürden. Neun weitere Gruppen machen sich an diesem Tag auf den Weg, um die Stadt auf Behindertenfreundlichkeit zu testen. Die Begehung ist ein Teil des Projekts »In Ansbach leben: offen – vernetzt – barrierefrei«, an dessen Ende ein Teilhabeplan stehen soll, der als Grundlage für Inklusion dient.
Rund 6.600 Betroffene
Die Gesundheitswissenschaftler der TU werten außer der Sozialraumbegehung Fragebögen von Ansbachern mit Behinderung aus. Ihr Auftraggeber sind die Offenen Hilfen der Diakonie Neuendettelsau, kurz Aron; die Abkürzung steht für die Bürostellen der Einrichtung Ansbach, Rothenburg ob der Tauber, Obernzenn und Neustadt an der Aisch – in Zusammenarbeit mit dem Beirat für Menschen mit Behinderung der Stadt Ansbach. »Wir wollten schon lange einen Teilhabeplan, der den Ist-Zustand dokumentiert«, erklärte Judith Hoppe, Leiterin der Offenen Hilfen und Beiratsvorsitzende.
Über dem Ansbacher Projekt steht das Rahmenkonzept »Ambulatisierung im Bezirk Mittelfranken«, das die Eingliederungshilfen für Menschen mit Behinderungen verbessern will. Als eins von vier Projekten in der Region finanziert der Bezirk auch den Teilhabeplan in der Residenzstadt. In Ansbach leben offiziell über 6.600 Menschen mit anerkannter Behinderung, 16 Prozent der Bürger. Die tatsächliche Zahl sei jedoch noch größer, da nicht alle psychischen Erkrankungen gemeldet werden, erklärt Hoppe. Trotz dieser Anzahl findet sich vor beinahe jedem Eingang in der Innenstadt mindestens eine Stufe, viele Strecken sind gepflastert und längst nicht alle Ampeln mit Blindenanlagen ausgestattet. »Man darf auch keine schwache Blase haben«, sagt Holzmann.
Vorreiter in Mittelfranken
Als ob diese Schwierigkeiten nicht schon anstrengend genug wären, müssen viele Betroffene mit unfreundlichem Personal, ungünstigen Öffnungszeiten öffentlicher Einrichtungen und Einsparungen im Nahverkehr kämpfen. Und nicht nur Gehbehinderte stoßen auf Barrieren im täglichen Leben. Auch Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen oder lerngeschwächte Bürger nahmen an der Begehung teil.
Das soll Verbesserungsbedarf für alle aufdecken. Durch die UN-Behindertenrechtskonvention sieht sich die Bundesregierung in der Pflicht, die »volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft« von Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen. So steht es in der Konvention. Einige Städte verfügen bereits über einen Teilhabeplan. In Mittelfranken sei Ansbach bisher Vorreiter, betont Hoppe.
Inklusion und UN-Behindertenrechtskonvention
Über Inklusion wird seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 in Deutschland viel diskutiert. Die Konvention fordert unter dem Stichwort Inklusion die selbstbestimmte, umfassende gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen unabhängig von ihren geistigen und körperlichen Fähigkeiten, ihrem Geschlecht sowie ihrer ethnischen und sozialen Herkunft. Inklusion betrachtet die Verschiedenartigkeit aller Menschen als Normalität.
Inklusion fordert in Abgrenzung zur Integration einen Perspektivwechsel. Integration bedeutet, dass Menschen entsprechend gefördert und in die Lage versetzt werden sollen, sich in eine Gemeinschaft einzufügen. Inklusion geht dagegen davon aus, dass die Gemeinschaften die Voraussetzungen schaffen müssen, damit jeder daran teilhaben kann. Solche Gemeinschaften sind etwa Kindertagesstätten, Schulen, Sport- und andere Vereine, Unternehmen, Kulturinitiativen, der Arbeitsmarkt und die Gesellschaft insgesamt.
In letzter Konsequenz würde Inklusion bedeuten, dass sämtliche Einrichtungen, die ausschließlich für Behinderte gedacht sind, wie heilpädagogische Kindergärten, Förderschulen, Werkstätten und Wohnheime für Behinderte, abgeschafft werden müssten.