Als seine Frau schwanger ist, hat Gert Meier (Namen geändert) klare Wünsche. "Gsund, gscheit und schee soll das Kind werden", sagt der Niederbayer. Und bloß nicht behindert. "Denn damit kann ich nichts anfangen, das passt nicht in mein Lebensbild." Neun Monate später kommt Laura zur Welt. "Die Kinderärztin hat sie mir in den Arm gelegt, und ich habe gedacht: 'Scheiße - so wolltest du das eigentlich nicht'", erzählt der 47-Jährige offen. Laura hat Trisomie 21, Down-Syndrom.

Heute ist Laura elf, hat eine Stupsnase, Sommersprossen und Kulleraugen. Hätten ihre Eltern vor ihrer Geburt von der Genmutation gewusst, säße Laura wohl nicht mit ihnen am blauen Gartentisch. "Meine Sorgen kamen von Unwissenheit. Von einem Schreckgespenst, Behinderte seien Menschen, die dir nichts zurückgeben", sagt Gert Meier: "Ideen, die man hat, wenn man nie mit einem Behinderten in Berührung gekommen ist." Und das kommt man in unserer Gesellschaft kaum, kritisiert er: "Die sind nirgends, die werden ständig weggesperrt."

Hier setzt das Modell der Inklusion an: Noch stärker als bei Integration, wo "andere" nachträglich in eine Gruppe eingegliedert werden, begreift Inklusion Unterschiedlichkeit von Anfang an als Normalität. Menschen mit Behinderung sollen wie alle anderen gleichberechtigt und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben - egal, ob sie nicht normgemäß gehen, sehen, sprechen oder denken. Sie müssen nicht länger Förderschulen besuchen, sondern bekommen die Freiheit, eine Regelschule zu wählen.

Inklusion hängt noch zu sehr vom Einzelnen ab

Seit einem Jahr versucht Bayern diesem Ideal, das in der UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 verankert ist, mit einem neuen Unterrichtsgesetz nahezukommen. "Ein Anfang ist gemacht, mehr auch nicht", sagt Martin Güll, Vorsitzender des Bildungsausschusses und Mitglied der Arbeitsgruppe Inklusion. Die Schulen seien noch nicht wirklich fähig, den gemeinsamen Unterricht zu organisieren. Vor allem fehle es an Geld für zusätzliche Förderschullehrer und Lehrerweiterbildung, so der SPD-Politiker. Viel zu häufig hänge Inklusion derzeit vom Engagement einzelner Eltern, Lehrer oder Rektoren ab.

Diese Erfahrung macht auch Familie Meier. Nach drei Jahren in einem integrativen Kindergarten wollen sie Laura in die reguläre Sprengelschule schicken. Sie habe weder nötiges Spezialmaterial noch die passende Ausbildung, stellt sich die Lehrerin dort quer. Das Ehepaar versucht es bei der nächsten Schule - wieder Fehlanzeige: "Andere Kinder können so grausam sein", "Wir arbeiten nicht integrativ, tut uns leid." Bei Versuch Nummer drei finden die Meiers eine Schule, die es mit Laura probieren möchte. Nun mauert das Schulamt: Erst brauche es ein Gutachten, ob Laura das schaffen könne. Also unterzieht sich das rotblonde Mädchen einer Beurteilung - mit der Folge, dass ein Sonderpädagoge dringend empfiehlt, sie in eine Förderschule zu schicken. Gert Meier ist sauer: Er kann nicht glauben, dass sie es nicht einmal versuchen dürfen. Ein Jahr streitet er mit den Behörden - schließlich sitzt Laura zwischen 20 "normalen" Kindern in der Regelschule.

Heute, vier Jahre später, kann der Vater seinen Triumph nicht verbergen, wenn er das Gutachten mit Lauras Zeugnissen vergleicht: Laura kommt gut gelaunt in die Schule. Sie ist gern mit ihren Mitschülern zusammen, ist lernwillig und folgt dem Unterricht meist aufmerksam, schreiben die Lehrer: Manchmal hat sie lustige Ideen und bringt uns damit alle zum Lachen. Laura stellt eine große Bereicherung für unsere Klasse dar. Alles, was laut Sonderpädagoge kaum möglich war, hat seine Tochter gemeistert.

Referat in bestem "Laurinesisch"

In der dritten Klasse stehen Referate an. "Aktive deutsche Sprache zählt nicht zu Lauras Stärken", sagt ihr Vater. In der Familie hilft Bruder Tim deshalb oft als Übersetzer - schließlich ist er mit Laurinesisch aufgewachsen. Auch mit abstrakten Sachverhalten hat Laura Probleme. Sie muss kein Referat halten, sagt die Lehrkraft. Laura will aber. Also stellt sich das Persönchen mit einer Flasche Ketchup und frischem Gemüse vor ihre Klasse. Und während ihre Mitschüler über Weltraumfahrt oder die Titanic berichten, hält sie in bestem Laurinesisch ein Referat über die Tomate.

Inklusion bedeutet, dass Kinder mit unterschiedlichsten geistigen und körperlichen Fähigkeiten gemeinsam lernen und leben. Familie Meier ist damit bestens vertraut. Denn was Laura an Intelligenz fehlt, hat ihr Bruder im Überfluss: Der Siebenjährige ist hochbegabt. "Bei Tim hat keine Schule gesagt, sie nimmt ihn nicht", sagt Meier. "Dabei ist er viel anstrengender: schubst, haut, ist laut." Er sitzt nicht gern still, ruft die Lösungen ins Zimmer, singt im Unterricht. "Welcher Monat ist heute?", fragt die Lehrerin. "7 Uhr", antwortet Tim - die Frage langweilt ihn. Anfangs stand die Vermutung im Raum, Tim habe eine Verhaltensstörung. Seine Eltern lassen ihn am Institut für Hochbegabung der Uni München testen, und es stellt sich heraus: Ihr Junge ist weit überdurchschnittlich intelligent und von regulärem Frontalunterricht schlicht unterfordert. Er braucht extra Betreuung, anderes Material, zusätzliche Aufgaben. In Tims Hochbegabtengutachten steht als Rat für die Lehrer, sie sollten "durch mutiges Ausprobieren herausfinden, was ihm guttut". Meier nickt: "Mutiges Ausprobieren - das wünsche ich mir auch für den Umgang mit behinderten Menschen."

Ballett, Theater, Musik und Gitarre

Wie das aussehen kann, hat die Familie bei Lauras Hobbys festgestellt: Beim Ballett lässt die Trainerin sie einfach mitmachen. Die Anweisung "Vier Schritte nach links, zwei nach vorn" hilft Laura nichts. Sie lernt, indem sie abschaut, was andere machen. Sogar im Stadttheater darf sie auftreten. "Okay, sie ist die Einzige, die während der Vorstellung an den Bühnenrand läuft und ihrer Oma winkt", grinst Meier. "Aber ist das wirklich so schlimm?" Auch bei Lauras zweiter Leidenschaft, der Musik, klappt es mittlerweile gut. Anfangs sagt die Gitarrenlehrerin, sie könne ihr nichts beibringen. Meier überredet sie, es mit neuen Methoden zu probieren. Die Lehrerin klebt bunte Punkte auf den Gitarrenhals und malt die Noten farbig. Und siehe da: Es funktioniert. Sogar so gut, dass sie die Hilfestellung mittlerweile auch für nicht behinderte Schüler nutzt, berichtet Meier. Zwei Jahre spielt Laura nun Gitarre: Nicht immer im Takt, aber ohne Scheu zupft sie bei Auftritten auch 50 Leuten was vor.

"Das hätte sie nie geschafft, wenn die Lehrerin es nicht probiert hätte", betont der Vater. Es ärgert ihn, dass Politiker alles vorab zu Tode rechnen. Wenn ein Rollstuhlfahrer in eine Schule möchte, in der die erste Klasse im dritten Stock sitzt, werden Umbaukosten berechnet, für zu teuer befunden und das Kind abgewiesen. "Statt dass man einfach Klassenzimmer tauscht", rät der Software-Entwickler zu mehr Pragmatismus. "Viele gute Ideen werden im Keim erstickt, weil vom Geschehen entfernte Verwaltungsbeamte zu wenig von der Praxis wissen", klagt Lauras Mutter Jutta Meier, selbst Lehrerin. "Ständig findet sich einer, der dir einen neuen Prügel zwischen die Füße schmeißt", schimpft ihr Mann und fährt sich durch die lockigen Haare: "Der Weg ist noch weit. Und wir fangen einfach nicht an!"

Er wünscht sich gemischte Klassen, und zwar an jeder Schule. Mehr als drei behinderte Kinder pro Klasse sollten es aber auch nicht sein. "Doch das entspricht wahrscheinlich dem Anteil Behinderter in der Gesellschaft", sagt er. Auch wenn seine Erfahrungen mit der Schulsuche für Laura noch vor dem neuen Unterrichtsgesetz lagen, glaubt er nicht, dass es heute wesentlich leichter sei. "Schließlich hat sich die Politik auch im neuen Gesetz ein tolles Schlupfloch gelassen", sagt er. Und meint damit Artikel 30a IV, wonach Schulaufwandsträger Inklusion ablehnen können, wenn sie "erhebliche Mehraufwendungen" bedeutet.

"Emilia ist doch nicht behindert - die ist eher wie ein Engel"

Auch Edwin Stegmann aus Mittelfranken hat eine Tochter mit Down-Syndrom. Auch er hat viel gekämpft. Unlängst kam es zum bisherigen Höhepunkt: Der Ortskindergarten kündigt seiner Tochter nach drei Jahren ihren Platz in der - wohlgemerkt - integrativen Gruppe. "Die Kinder hatten nie ein Problem mit ihr", sagt der Vater. Er erzählt von einem Ausflug, bei dem eine Frau die Gruppe begrüßte und sagte: "Heute haben wir ein besonderes Kind dabei, die Emilia. Das ist ein Mädchen mit einer Behinderung." Später erzählt Max, ein Junge aus Emilias Gruppe, seiner Mutter: "Da hat die Frau gesagt, da ist auch ein behindertes Kind dabei. Und stell dir vor, damit hat sie die Emilia gemeint!" Er ist fassungslos: "Die Emilia ist doch nicht behindert … die ist eher wie ein Engel."

Doch scheinbar kommen nicht alle mit dem Engelchen zurecht. "Emilia ist sehr anstrengend", heißt es von Kindergartenseite. Es fehle an Ressourcen, es bestehe Fremd- und Selbstgefährdung, weil Emilia Seife in den Mund genommen habe, zu wenig trinke und andere an den Haaren ziehe, argumentiert die Einrichtung in der für die Familie überraschenden Kündigung. Die Stegmanns sind sauer: "Ja, man kann sich nicht mit Emilia hinsetzen und basteln - da braucht es andere Inhalte", gibt der Vater, der selbst eine Behinderteneinrichtung leitet, zu. Doch es gebe einfache Alternativen: Musik etwa begeistert Emilia. Und um Motorik zu trainieren, könne man beispielsweise trommeln, sagt der Sozialpädagoge. Das sei auch für nicht behinderte Kinder spannend: "Sie setzen sich dazu und trommeln mit." Und wenn Emilias Hörförderlehrerin in den Kindergarten kommt und mit ihr Gebärden übt, sei es nur gut, wenn sie das inmitten der anderen macht - damit auch sie die Gesten lernen.

Wichtig, selbstverständlicher Teil der Gesellschaft zu sein

Doch der Kindergarten war überfordert. Die Stegmanns wenden sich an die bayerische Behindertenbeauftragte, an einem Runden Tisch wird die Kündigung besprochen und schließlich zurückgenommen. Der Vater ist trotzdem nicht zufrieden: "Rechtlich konnten die nicht anders", seufzt er: "Aber eine positive Haltung zu unserem Kind haben sie deshalb nicht."

Genau wie den Meiers ist es den Stegmanns wichtig, dass ihre Tochter ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft sein darf. Er genieße es, wenn sie beim Einkaufen seien und die Leute sagen: "Hallo Emilia, dich kenne ich. Irgendwie bist du anders, trotzdem hallo."

Doch oft hätten die Eltern behinderter Kinder Angst, dass sie ihrem Nachwuchs mit Regeleinrichtungen nichts Gutes tun. "Emilia geht da gern hin, das spüren wir", sagt Stegmann. Auch sei die Förderung in Sonderschulen nicht automatisch besser. Und dass behinderte Kinder von nicht behinderten gemobbt würden, können beide Väter nicht bestätigen - im Gegenteil. "Vielleicht wird das anders, wenn sie älter werden", überlegt Stegmann. Andererseits sei die Pubertät auch für Nichtbehinderte oft grausam: "Da muss wohl jeder durch."

Auch andersherum sorgen sich die Eltern von nicht behinderten Kindern manchmal, die Leistung ihrer Zöglinge könnte durch gemeinsamen Unterricht beeinträchtigt werden. "Diese Ängste werden durch die PISA-Studie eindeutig widerlegt", erklärt Peter Radtke, der als Behindertenexperte im Ethikrat und mit Glasknochen im Rollstuhl sitzt: Gerade Länder wie Finnland oder Kanada, die sich der Inklusion besonders verpflichtet fühlen, stünden im Schulranking ganz vorn.

Wie sieht Bayerns inklusive Zukunft also aus - werden Sonderschulen gar überflüssig? Auf keinen Fall dürfe Inklusion dazu führen, dass alle Fördereinrichtungen aufgelöst werden, warnt der in der evangelischen Landeskirche für Schulen zuständige Oberkirchenrat Detlev Bierbaum. Immer müssten die individuellen Bedürfnisse des Einzelnen im Vordergrund stehen und nicht ein Prinzip. "Und es gibt eben Fälle, in denen Beschulung in einer Förderschule zielführender ist als in einer Regelschule", betont er.

Auch in der diakonischen Wohn- und Beschäftigungseinrichtung, die Edwin Stegmann leitet, leben geistig behinderte Menschen getrennt vom Rest der Gesellschaft. "Für manche ist das vielleicht von Vorteil", meint er. "Aber die Teilhabe ist dadurch natürlich eingeschränkt." Sich als traditionell stationäre Einrichtung für Inklusion zu öffnen, kratze schnell an Selbstbild und Status: "Wir sollen unser Schwimmbad aufgeben? Das geht doch nicht." Stegmann korrigiert: "Doch das geht. Behinderte können ebenso gut öffentliche Schwimmbäder besuchen."

Gegen eine alternativlose Lösung sprechen sich auch Behinderte selbst aus. "Wir wollen die Möglichkeit zu wählen", bestätigt Behindertenbeauftragte Irmgard Badura, selbst fast blind, die UN-Konvention. Wie jeder dann mit dieser Freiheit umgehe, bleibe ihm überlassen: "Wir wollen nicht etwas Bestimmtes tun, sondern etwas Bestimmtes tun können."

Doch um diese Wahlfreiheit auch nutzen zu können, braucht es die richtigen Informationen. An unabhängige Beratung zu kommen sei derzeit mühsam, anstrengend und frustrierend, klagen betroffene Eltern. Viel zu oft vertrauten sie deshalb dem Urteil vermeintlicher Fachkräfte und gäben ihr Kind in Förderschulen, sagt Edwin Stegmann. Er zitiert eine Studie, nach der zwar die Gesamtzahl der Kinder rückläufig ist, nicht aber die Zahl der Kinder in Fördereinrichtungen. Ein Grund dafür sei der Selbsterhaltungstrieb der Förderschulen. Ein anderer die innere Haltung in integrativen und Regeleinrichtungen: "Statt sich auf den Bedarf wirklich Behinderter einzustellen, holen sie sich für die Förderplätze Kinder, die zwar den erhöhten Abrechnungssatz bringen, aber leichter zu betreuen sind. Kinder, die nicht behindert sind, sondern nur entwicklungsverzögert", sagt der Sozialpädagoge und schüttelt den Kopf: "Das ist nicht integrativ, das nennt sich nur so." Und die wirklich behinderten Menschen blieben auf der Strecke.

Weil Lauras Grundschulzeit nun vorbei ist, muss Familie Meier erneut eine Schule suchen. Diesmal finden sie in der Nähe keine Regelschule, die ihren Wirbelwind aufnehmen will. Deshalb besucht die Elfjährige jetzt die "Pestalozzi", eine Förderschule. "Endlich sind wir da angelangt, wo wir wohl immer schon hätten hinmüssen", sagt Meier mit zusammengekniffenem Gesicht. Immerhin sei es eine Schule mit Außenklasse: Das heißt, die Förderklasse sitzt an einer Regelschule, mit der sie gemeinsame Fächer hat. Dennoch fühlt der Vater, dass sie sich mit diesem Schritt wieder vom Ideal der gesellschaftlichen Inklusion entfernen. Er seufzt müde: "Mal schaun, wie es weitergeht."