Ein bayerisches Geschichtsbuch mit fränkischem Musterbeispiel ist Helmut Fries' Werk "500 Jahre evangelisches Leben und Schule in Würzburg und Unterfranken" geworden. Das mehr als 500 Seiten starke Buch ist im Wissenschaftsverlag Königshausen & Neumann erschienen. Eine besondere Qualität des Werkes liegt in den Versuchen, die Menschen zurückliegender Epochen zu verstehen, indem die Leserinnen und Leser deren Alltag nachempfinden.
Vom 19. Jahrhundert über NS-Zeit bis nach dem Krieg
Fries macht seine Leser schwerpunktmäßig mit dem Leben in der Mitte des 19. Jahrhunderts, im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit vertraut. Zur historischen Forschung kam der heute 79-jährige pensionierte Direktor bei der Vorbereitung eines großen Jubiläums: Seine letzte Schule im Würzburger Viertel - die Hauger Schule - feierte 2013 ihr "Tausendjähriges". Er verfasste dazu einen umfangreichen Beitrag in der Reihe Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg.
Dabei fiel ihm auf: "Es gibt ja auch eine Geschichte der evangelischen Schule in dieser Stadt." Allerdings sei nie untersucht worden, wie sich diese Schule und die evangelische Kirche gemeinsam nach dem Toleranzedikt in Würzburg entwickelt haben. Seitdem arbeitete Helmut Fries daran.
In dieser Chronik über fünf Jahrhunderte erklärt sich die starke Rolle des 19. Jahrhunderts aus der bayerischen Geschichte: 1803 wurden auf Napoleons Betreiben geistliche Landesherrschaften wie das Würzburger Fürstbistum aufgelöst. Erst durch diese Auflösungen waren in weiten Gebieten Mainfrankens wieder evangelische Gemeinden zugelassen.
Evangelische Kirche hat sich nicht isoliert entwickelt
Das erweitert den Blick der Fries'schen Arbeit: "Die evangelische Kirche hat sich hier nicht isoliert entwickelt, sondern immer in Beziehung zur anderen Konfession. Gerade diese katholisch geprägte Stadt leistete einen Beitrag zur Profilierung der evangelischen Kirche in der Region", fasst der Pädagoge zusammen - und gesteht den biografischen Grund seiner Themeneingrenzung:
"Ich bin durch und durch Lehrer geblieben und möchte mich meinen Kollegen in früheren Jahrhunderten annähern."
Nicht als Selbstzweck, sondern auch "um die Gesellschaft und Politik dieser Zeit besser zu verstehen".
So habe sich nach 1803 in den früher rein katholischen Gebieten "neues Leben entfaltet". Dessen Betrachtung kommt vielfach einer Geschichte von unten gleich. Denn Lehrer sei vor 200 Jahren ein "Synonym für Armut und Subalternität" gewesen - was die Vertreter dieses Berufs aber auch zu Freiheitskämpfern machen konnte. Der Autor zitiert aus einem Gesuch evangelischer und katholischer Lehrer aus dem Jahr 1848 an die Nationalversammlung:
"Gern wird der Lehrerstand, der schon seit Jahrhunderten die Entbehrung und Not gewohnt ist, das Opfer bringen und noch länger auf entsprechende Besoldung verzichten, wenn nur die Schule frei wird."
Ebenso hat Helmut Fries "besonders berührt: die Verstrickung der Lehrkräfte in die NS-Ideologie; das Regime stellte durch Indoktrinierung hohe Anforderungen an den Lehrerstand". Da fragte sich der Autor, wie er sich zwischen 1933 und 1945 verhalten hätte, und gesteht: "Ich bin froh, dass ich damals nicht dabei sein musste."
Entnazifizierung fiel brisant aus
Auch die sogenannte Entnazifizierung fiel für die Kolleginnen und Kollegen brisant aus:
"Einerseits hat man sie verflucht wegen ihres Denkens zur Zeit der NS-Ideologie, andererseits hat man gleichzeitig von ihnen demokratisches Denken erwartet."
Für dieses durchaus persönliche Buch wertete Fries neben Quellen in Staats- und Stadtarchiv besonders das Archiv des evangelischen Dekanats Würzburg aus, Urkunden, Verträge, Briefwechsel und eine komplette Sammlung von Gemeindebriefen - "immer ein Spiegel der jeweiligen Zeit. Dort bin ich sehr fündig geworden." Helmut Fries hofft, dass seine Arbeit weitere Forscher inspiriert.
500 Jahre evangelisches Leben und Schule in Würzburg und Unterfranken
Vor 500 Jahren erfasste die Reformation auch Würzburg. Auf dem Hintergrund des Zeitgeschehens erlebt der Leser die wechselvolle Geschichte der Protestanten bis heute: Von den Anfängen im 16. Jahrhundert bis zum Toleranzedikt 1803, das den Evangelischen gleiche Rechte wie den katholischen Glaubensgenossen in Bayern zugestand.
Nun war der Weg frei für den Aufbau der Evangelischen Landeskirche wie auch für die Profilbildung des Ev.-Luth. Dekanats in Würzburg. Im Jahr 1809 wurde der erste evangelische Lehrer angestellt. Als Hoffnungsträger übernahmen die Lehrkräfte Verantwortung für Gesellschaft und Staat bis zum heutigen Tag. Sie mussten Rückschläge in Kauf nehmen, erlebten aber auch den Siegeszug eigenständiger Pädagogik und Anerkennung ihrer besonderen Leistungen.
Thematisiert wird schließlich die notwendige Neuorganisation von Schule und Kirche mit Blick auf die Herausforderungen der Zukunft: Worauf müssen wir unsere Bildung ausrichten, damit wir gegenüber Maschinen mit schier unendlichem Wissensspeicher wettbewerbsfähig bleiben? Wir Menschen brauchen in der digitalisierten Welt einen Ort, wo wir uns verstanden fühlen. Dieser Ort kann Kirche sein, wenn sie zeitgemäße Formen für ihre Botschaft findet.