Jüdische Menschen aus Europa werden im dunklen Schatten des Nationalsozialismus häufig ausschließlich mit einer Opferrolle assoziiert.

Dabei kämpften laut Schätzungen rund 20.000 deutschsprachige Zwangsemigranten zwischen 1939 und 1945 auf Seiten der US-amerikanischen und britischen Streitkräfte gegen das NS-Regime.

Eine Nürnberger Stadttour beleuchtet am Beispiel jüdischer Nürnberger dieses weitgehend unbeachtete Kapitel der Stadtgeschichte.

Die Stadtführung "From Nuremberg to Normandy"

Mit ihrer neuen Stadtführung "From Nuremberg to Normandy" gibt Susanne Rieger vom Verlag Testimon, die auch Leiterin der Stadtführungen transiturs ist, Einblicke in die historische Puzzlearbeit.

Nach jahrelanger "Pionierarbeit in der Region" kann sie nun eine Zwischenbilanz ziehen: Insgesamt hat Rieger bislang 208 Personen aus dem Großraum identifiziert, 140 lebten direkt in Nürnberg, bevor sie nach der Flucht vor dem Naziterror überwiegend in den USA und Großbritannien eine neue Heimat fanden.

Während einige dort für ihren militärischen Einsatz teils hochdekoriert wurden, werde ihre Geschichte bislang in ihrer alten Heimat weitgehend ignoriert, sagt Rieger.

Sie illustriert die Geschichte am Beispiel der Rankestraße im gutbürgerlichen Nibelungenviertel der Südstadt - im Schatten der einstigen SS-Kaserne, in der heute das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) residiert.

Die Geschichte der Gutmann-Brüder

Ein altes Foto aus dem Jahr 1935 zeigt unter anderem vier Klassenkameraden, die mit einem Fußball vom Bahnhofsplatz zu einem Ausflug aufbrechen.

Darunter der junge Kurt Gutmann und sein Bruder Peter, Kinder eines jüdischen Weinhändlers.

Die Gutmann-Brüder werden zunächst in einer Schweizer Schule vor den Nazis in Sicherheit gebracht und erreichen 1937 mit ihren Eltern die USA. Das Elternhaus in der Rankestraße 78 wurde bei Bombenangriffen deutlich beschädigt.

Kampf gegen das Vaterland: die "Ritchie Boys" 

Einen Steinwurf entfernt wuchs der junge Walter L. Strauß auf, der als 14-Jähriger allein in die Vereinigten Staaten zwangsemigrierte und 1942 mit 20 Jahren in die Army eintrat. Dort wurde er ein sogenannter "Ritchie Boy".

Das waren deutsche oder österreichische Absolventen des Camp Ritchie, in dem Muttersprachler speziell für den Einsatz gegen Nazi-Deutschland ausgebildet wurden.

Man habe "die Ritchie Boys nicht überzeugen müssen, aktiv gegen ihr verbrecherisches Vaterland zu kämpfen", berichtet Rieger.

Der "Ritchie Boy" Fritz Heilbronner

Sie veranschaulicht diese Bereitschaft am Beispiel des jungen Fritz Heilbronner, dessen Familie bereits mehr als 100 Jahre in Nürnberg gelebt hatte.

Der Schüler wurde zunächst am Bodensee untergebracht und dort bei den Novemberpogromen am 9. November 1938 von Nazis schwer verletzt.

"Er brannte darauf, gegen die Nazis in den Krieg zu ziehen."

Zumal Vater Josef ein stolzer, deutscher Veteran des Ersten Weltkrieges war.

Vor diesem Hintergrund erscheint es besonders absurd, dass im Zuge der Nürnberger Rassegesetze, die vor 85 Jahren (15. September 1935) verabschiedet wurden, die Deutschen jüdischen Glaubens als "wehrunfähig" eingestuft wurden, erinnert die Historikerin.

Die Geschichte des Arnold Weiß

Als weiteres Beispiel führt Rieger den jüdischen Schüler Arnold Weiß an, der als 13-Jähriger in den USA ankam. Während des Studiums wurde er ebenfalls "Ritchie Boy" und kam als kämpfender GI direkt in seiner Heimatstadt Nürnberg zurück.

Seine Aufgabe war es unter anderem, deutsche Stellungen aufzuspüren und Waffenlager auszuheben.

Nach Kriegsende war er für die Nürnberger Prozesse an der Aufklärung der NS-Verbrechen aktiv und habe am Tegernsee "das Testament Hitlers aufgespürt".

Die Erinnerung an religiös und politisch Vertriebene 

Rieger führt mit vielen Anekdoten durch die Rankestraße und die benachbarten Straßen. Hierbei kommt die coronabedingt auf 15 Teilnehmer begrenzte Auftaktführung auch an der Wohnung des NSDAP-Gauleiters Julius Streicher vorbei, der mit einer jüdischen Nachbarin die Tanzschule besucht habe.

Testimon und transiturs machen sich bereits seit 2015 dafür stark, dass die religiös oder politisch aus Nürnberg Vertriebenen wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein geholt werden.

Der Vorschlag, ein Straßenstück vor dem "Aufmarschgelände" Zeppelinbühne stellvertretend nach dem Nürnberger US-GI Stephen Mosbacher zu benennen, verlief allerdings im Sande. Selbst eine privat finanzierte Gedenktafel ist bis heute nicht realisiert.