Das Wohl der Allgemeinheit ist der Diakonie Herzogsägmühle bei Peiting (Landkreis Weilheim-Schongau) quasi ins Leitbild eingraviert:
Seit 125 Jahren kümmert sich die Schwester der Inneren Mission München um Obdach- und Arbeitslose, längst hat sich das Hilfeangebot auf nahezu alle Bereiche psychischer, seelischer oder körperlicher Beeinträchtigung von Menschen jeder Altersstufe ausgedehnt.
Ökologische Fragen und Themen wie Partizipation und Teilhabe sind in den letzten Jahren im Zentrum des Unternehmens mit 1440 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 94 Millionen Euro angekommen.
Das Thema "Gemeinwohl" wäre ein spannender Tagesordnungspunkt für Rüstungskonzerne, Chemiefabriken oder Hegdefonds. Aber für Herzogsägmühle?
Gemeinwohl-Bilanz der Diakonie Herzogsägmühle
Dennoch wartet Direktor Wilfried Knorr derzeit ungeduldig auf seine nach 2017 zweite Gemeinwohl-Bilanz.
Einen 80 Seiten langen Bericht hat er dafür verfasst, 44 Mitarbeitende wurden zwei Tage lang von externen Auditoren befragt.
"Der Teufel steckt im Detail", begründet Knorr die Beteiligung von Herzogsägmühle am Modell der Gemeinwohlökonomie.
"Denn bloß weil wir im Mühlenmarkt Bio-Orangen verkaufen, heißt das nicht automatisch, dass bei ihrer Ernte in Spanien keine Flüchtlinge ausgebeutet wurden", sagt Knorr, seit 31 Jahren im Unternehmen und seit 2004 dessen Chef.
Das Konzept der Gemeinwohlökonomie
Und genau um solche Fragen geht es dem alternativen Wirtschaftsmodell der GWÖ, das am 6. Oktober seinen zehnten Geburtstag feiert:
Sind die Arbeitsbedingungen in der Zuliefererkette menschenwürdig, werden Investitionen nach sozial-ökologischen Gesichtspunkten getätigt, gibt es beim Thema "Lohn" Transparenz im Betrieb und sind die Mitarbeiter an Unternehmensentscheidungen beteiligt?
Maximal 1.000 Punkte können in 20 Berichtsfeldern erreicht werden. Aber auch Minuspunkte sind vorgesehen - zum Beispiel für die Verhinderung eines Betriebsrats oder für Preisdumping dank Marktmacht.
Positive Auswirkungen des Wirtschaftsmodells
Manches Berichtsfeld ist für die Diakonie Herzogsägmühle schlicht nicht relevant: Feindliche Übernahmen oder Gewinnausschüttungen gibt es hier nicht.
Doch gerade in den Bereichen Mobilität und Energieversorgung hat sich durch die Beschäftigung mit der GWÖ viel getan.
Eine Mitfahr-App sorgt jetzt für optimale Auslastung bei Dienstfahrten, es gibt Solartankstellen für die steigende Zahl von Elektroautos im Fuhrpark.
Ein Ortsteil wird bereits vollständig über ein Hackschnitzel-Kraftwerk beheizt - das Material dafür kommt aus dem Unterholz der betriebseigenen Wälder. "Unser Ziel ist eine CO2-neutrale Sozialarbeit bis 2035", sagt Wilfried Knorr.
Förderung der Mitarbeiterbeteiligung
Vor allem der Bereich der Mitarbeiterbeteiligung hat durch die GWÖ einen Schub bekommen.
Die Mitarbeitervertretung sitzt mit in der Leitungsrunde, und vor drei Jahren wählten die Bürgerinnen und Bürger des Ortes ihren ersten Dorfrat, in dem neben zwei Personen aus der Unternehmensleitung auch fünf hilfeberechtigte Bewohner ein Mandat haben.
Eine der ersten Forderungen war ein Brotbackhaus auf dem Dorfplatz.
"Das bringt dem Unternehmen keinen Gewinn, aber es ist ein Ausdruck von Gemeinwohl, wenn sich jetzt jeden Freitag hier Menschen zum backen treffen", sagt Knorr.
Kirche und Gemeinwohlökonomie
Für ihn sind Kirche und Gemeinwohlökonomie geborene Partner. "Die Gemeinwohlökonomie setzt christliche Kultur glaubhaft in ethisches Handeln um", sagt Knorr.
Er wünscht sich, dass Kirche und Diakonie "im Ringen um eine gerechte Weltordnung an der Spitze der Bewegung stehen und den Staat vor sich hertreiben".
Erste Nachahmer gibt es: Das Bistum Passau in Bayern, der Diakonieverbund Schweicheln in Nordrhein-Westfalen und ein paar andere kirchliche Player arbeiten an ihren ersten Gemeinwohl-Bilanzen.
Erwartungen an die Kirche
Wilfried Knorr geht das zu langsam. "Es gibt in der Kirche eine große Sattheit und Selbstzufriedenheit", lautet seine Kritik.
Doch viele Menschen spürten die Diskrepanz "zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir tun müssten".
Die Folge sei ein tiefes Glaubwürdigkeitsloch - und Mitgliederschwund.
Knorrs Traum: Alle kirchlichen Einrichtungen sind gemeinwohlbilanziert - und die Kirchen nehmen mit 20 Prozent ihrer Finanzanlagen den Dauerbrenner "Wohnraumbeschaffung" in die Hand, ohne Rendite zu erwarten.
"Damit verdient man nichts - aber das hätte Strahlkraft!" sagt Knorr.
Kleine Fortschritte
Erste positive Schritte sieht der GWÖ-Sprecher im Bereich von Wissenschaft und Politik. Es gebe immer mehr Studien zur Praktikabilität der Gemeinwohlökonomie und erste Lehrstühle für alternatives Wirtschaften.
Manche Kommunen hätten Gemeinwohl-Bilanzen erstellt. In Berlin treffe sich eine fraktionsübergreifende GWÖ-Kontaktgruppe.
Und ganz konkret habe die Regierung von Oberbayern Bereitschaft signalisiert, bei der Leistungserstattung einen Zuschlag für regionale und nachhaltige Lebensmittel zu bezahlen.
Forderung: Gesetzesänderung
Allerdings müsse dafür eine Gesetzesänderung her.
"Bislang steht im Gesetz, dass Leistungen wirtschaftlich und sparsam erbracht werden müssen", sagt Knorr. Ersetze man "sparsam" durch "nachhaltig", würde erstmals ein Baustein der GWÖ bei der Refinanzierung der freien Wohlfahrt berücksichtigt werden.
"Das wäre ein Meilenstein", sagt Knorr.
Knorr: Bessere Umstände durch Schwarmintelligenz
Der umtriebige Geschäftsführer will Unternehmen ermutigen, die Mühen der Gemeinwohlökonomie auf sich zu nehmen und nimmt dem Konzept die ideologische Spitze: "Die GWÖ ist nicht die Bibel und ein Verstoß gegen eins der Kriterien ist keine Sünde."
Wer in seinem Unternehmen keine breite Beteiligungskultur habe, bekomme in dem Feld eben null Punkte.
Allerdings bezeichnet sich Knorr als Fan von Schwarmintelligenz: "Die Zeit für starke Führer ist vorbei. Wir brauchen das Empowerment und die Beteiligung von Vielen."