Als das Nürnberger Ehepaar Helmut und Erika Simon am 19. September 1991 auf einer Wanderung in den Ötztaler Alpen einen Oberkörper aus dem Gletschereis ragen sieht, werden zunächst die österreichische Polizei und die italienischen Carabinieri aktiv. Die Bergungskräfte gehen davon aus, dass es sich um einen im Grenzgebiet verunglückten Bergsteiger handelt.

Mit teils brachialen Methoden lösen sie die Leiche in 3.210 Metern am Tisenjoch aus dem Eis. Ein abgewinkelter Arm des Mannes wird gebrochen. Wenige Tage später löst die Einschätzung eins Experten für Ur- und Frühgeschichte in der Innsbrucker Gerichtsmedizin, dass die Leiche mindestens 4.000 Jahre alt sei, eine archäologische Sensation aus. Heute weiß man: Sie ist sogar rund 5.300 Jahre alt. Der Mann aus dem Eis lebte in der Steinzeit.

Ötzi liegt auf Präzisionswaage

Der "Ötzi", wie die Mumie nach dem Fundort in den Ötztaler Alpen genannt wird, liegt seit 1998 in einer Kühlkammer im Bozener Archäologiemuseum in Südtirol. Besucher können ihn durch ein kleines Fenster hindurch betrachten. Dort werden mit einer Temperatur von minus sechs Grad und einer Luftfeuchtigkeit von knapp 99 Prozent Bedingungen wie im Gletscher simuliert. Der Körper lagert auf einer Präzisionswaage, um Gewichtsveränderungen durch Verdunstung umgehend feststellen zu können. Um einem möglichen Feuchtigkeitsverlust entgegenzuwirken, wird die Mumie regelmäßig mit sterilem Wasser besprüht.

Forscher*innen unterschiedlichster Wissenschaftszweige haben außerhalb der Öffnungszeiten des Museums Zugang zu dem Mann - wenn ihr Projekt strengen Kriterien genügt. Denn "die Mumie ist endlich", sagt der Präsident des wissenschaftlichen Beirats des Museums, Frank Rühli von der Universität Zürich.

Zeitreise in die Steinzeit

Der Wissenschaft ermöglicht der Fund eine Art "Zeitreise in die Steinzeit". Als Glücksfall für die Forschung stellte sich bei der Bergung heraus, dass nicht nur die Leiche und die aufwändig gefertigte Kleidung erstaunlich gut erhalten war. Auch zahlreiche Ausrüstungsgegenstände wie ein Kupferbeil, ein noch nicht fertig gearbeiteter Bogen, ein Köcher und ein abgebrochener Feuersteindolch fanden sich in der Nähe der Gletschermumie.

"Durch den Mann aus dem Eis spielte sich die Zusammenarbeit verschiedenster historischer und naturwissenschaftlicher Disziplinen zum gegenseitigen Erkenntnisgewinn überhaupt erst ein", rühmt das Museum die wechselseitige Bereicherung der Forschungsarbeiten.

Und auch das fand die Wissenschaft schnell heraus: Der Mann war keines natürlichen Todes gestorben, er wurde ermordet. Kurz vor seinem Tod durch einen Bogenschuss in die Schulter aß "Ötzi" noch Steinbock- und Hirschfleisch mit viel Fett sowie frühe Getreidesorten wie Einkorn, Emmer und Gerste. Das geht aus Untersuchungen seines Mageninhalts hervor.

Gentechnische Untersuchungen mit überraschendem Ergebnis

Mit Adlerfarn habe er auch eine eher giftige Pflanze zu sich genommen, möglicherweise, um Darmparasiten zu bekämpfen, erklärt Albert Zink, Leiter des Instituts für Mumienforschung an der Europäischen Akademie Bozen. Überrascht waren die Forschenden, als sie bei gentechnischen Untersuchungen auf eine starke Veranlagung für Herz- und Gefäßkrankheiten stießen.

Der Mann aus dem Eis litt zu Lebzeiten an Arteriosklerose, die bis dahin als Folge von wenig Bewegung und Übergewicht gegolten hatte. All dies traf auf "Ötzi" nicht zu. "Er war körperlich sehr fit, trotz seiner Wehwehchen und Abnutzungserscheinungen hätte er ein deutlich höheres Alter erreichen können", sagt der Anthropologe Zink.

Für die Wissenschaft ist "Ötzi" ein idealer Forschungsgegenstand, denn im Unterschied zu anderen erhaltenen Toten aus Ägypten und Europa handelt es sich um eine auf natürliche Weise im Gletscher mumifizierte Feuchtmumie. Seine Organe wurden nicht entnommen, und er wurde nicht einbalsamiert.

Forschung hofft auf weitere neue Erkenntnisse

Deshalb verspricht sich die Forschung auch 30 Jahre nach dem Fund noch weitere Erkenntnisse. Denn die Untersuchungsmethoden entwickeln sich immer weiter. "Auch wenn wir viel herausbekommen, ganz zu Ende wird es nie sein", sagt Zink, der Leiter des Bozener Instituts für Mumienforschung.

Das Archäologiemuseum vermittelt die Vielfalt der wissenschaftlichen Erkenntnisse an die Besucher*innen. Man erfährt auch, dass "Ötzi" ursprünglich 1,60 Meter groß war und und Schuhgröße 38 hatte. Und man bekommt Einblicke in die Machart der Kleidungsstücke und Werkzeuge. Zum Jubiläum lädt das Museum am 18. und 19. September auf die nahe gelegenen Talferwiesen zu einer kleinen Reise in die Steinzeit: Kinder und Erwachsene können die Herstellung von Klingen und Pfeilspitzen erlernen, die Bearbeitung von Leder, Holz und Geweihen - und natürlich das Anzünden mit Feuersteinen.