Nach über 30 Jahren in den Diensten der Diakonie Herzogsägmühle geht Wilfried Knorr in Ruhestand. Der Diplom-Pädagoge begann dort 1989 - nach zwölf Jahren als Berufsoffizier der Luftwaffe - als Leiter der Jugendhilfe. 2004 übernahm er die Leitung des Diakoniedorfs und setzte unter anderem bei den Themen Inklusion und Gemeinwohl starke Akzente. Den Direktortitel als Relikt einer vergangenen Ära nimmt Knorr mit in den Ruhestand: Sein Nachfolger Andreas Kurz heißt ab 1. Januar, angepasst an die neuen Unternehmensstrukturen, einfach nur Geschäftsführer.

Eine der sichtbarsten Veränderungen in Knorrs Amtszeit manifestiert sich - neben zahlreichen Um- und Neubauten - in einem großen gelben Ortsschild: Schon lange gilt Herzogsägmühle nicht mehr nur als Werksgelände, sondern als Ortsteil der Marktgemeinde Peiting. Mittlerweile können auch Auswärtige in Herzogsägmühle Bauland erwerben und sich niederlassen. "Inverse Inklusion" hat Knorr das Prinzip gern genannt: Nicht die hilfeberechtigten Menschen müssen sich einfügen, sondern Vertreter der Mehrheitsgesellschaft werden Teil des diakonischen Lebens.

Wilfried Knorr und die "Hilfeberechtigten"

Auch die Sprache im Diakoniedorf hat Wilfried Knorr, Hobby-Kabarettist und leidenschaftlicher Schnellredner, mit der Zeit verändert. Aus "Klienten" oder "Menschen mit Handicaps" wurden Hilfeberechtigte in schwierigen Lebenslagen. Das macht zweierlei deutlich: Wer in einer Herzogsägmühler Einrichtung lebt, lernt oder arbeitet, hat ein Recht auf diese staatlich geförderte Hilfe. Und seine Situation - ob Sucht, Arbeitslosigkeit oder Behinderung  - ist nicht selbstverschuldet, sondern könnte jeden im Laufe seines Lebens einmal treffen.

Zudem versuchte der 63-Jährige in den letzten Jahren, über das Stichwort "Nachhaltigkeit" für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Auf den saftigen Wiesen der Herzogsägmühler Landwirtschaft grasen nämlich Angus-Rinder, die hier nach den strengen Bio-Kriterien von "Naturland" zur Fleischerzeugung gehalten werden. Während die teuren Steaks an betuchte Kundschaft verkauft würden, müsse Herzogsägmühle für seine Bewohner aber günstige Supermarktware ordern - eine "absurde Situation", kritisierte Knorr.

Seine Forderung: Statt "sparsam" sollte im Gesetz zur Refinanzierung der sozialen Arbeit "nachhaltig" stehen. Dann kämen im Ergebnis nicht mehr Billig-Produkte zum Zug, sondern solche, bei denen Nachhaltigkeit, Regionalität, Fairtrade oder ökologische Gesichtspunkte im Vordergrund stünden.

Gemeinwohlökonomie in der Diakonie

Damit landet man automatisch bei einem Lieblingsthema von Wilfried Knorr: der Gemeinwohlökonomie, kurz GWÖ, die ein alternatives, sozial gerechteres Wirtschaftsmodell zum Kapitalismus vorschlägt. Seit 2017 ist die Diakonie Herzogsägmühle mit einer GWÖ-Bilanz ausgestattet, 2020 folgte die zweite Runde. "Die Gemeinwohlökonomie setzt christliche Kultur glaubhaft in ethisches Handeln um", sagte Knorr dem epd.

Knorrs Wunsch: Dass Kirche und Diakonie "im Ringen um eine gerechte Weltordnung an der Spitze der Bewegung stehen und den Staat vor sich hertreiben". Noch 2020 ging das dem rastlosen Gestalter zu langsam. "Es gibt in der Kirche eine große Sattheit und Selbstzufriedenheit", lautete seine Kritik. Doch viele Menschen spürten die Diskrepanz "zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir tun müssten". Die Folge sei ein tiefes Glaubwürdigkeitsloch - und Mitgliederschwund.

Knorrs Traum, dass alle kirchlichen Einrichtungen gemeinwohlbilanziert sind, müssen jetzt andere voranbringen. Der Direktor selbst tritt einen Schritt zurück - in eine Lebensphase, die bei Wilfried Knorr das Stichwort "Ruhestand" wahrscheinlich nur als kabarettistischen Untertitel tragen wird.