Tutzing (epd). In den Augen von Christian Wulff könnte 2024 ein Schicksalsjahr für die USA, für Europa und für die deutsche Demokratie werden. Er wünsche sich für seine drei Kinder, wenn sie alt seien, "dass sie dann ein Leben in Frieden wie ich hatten und kein Leben erleben müssen, wie es meine Eltern und Großeltern hatten", sagte der Bundespräsident a.D. laut Redemanuskript am Samstag anlässlich der Frühjahrstagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing zum Thema "Religion und Politik - eine Verhältnisbestimmung".

Das Grundgesetz, das dieses Jahr 75 Jahre alt wird, sei "unser zweiter Versuch, dauerhaft Demokratie zu leben". Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hätten um die Anfälligkeit der Menschen zur Fehlerwiederholung gewusst und die Lehren aus dem Scheitern der ersten deutschen Demokratie in den Institutionen der Bundesrepublik verankert. "Aber klar ist: Allein ein Grundgesetz macht noch keinen Staat aus", sagte Wulff weiter. Ohne bekennende Demokratinnen und Demokraten gebe es keine Demokratie.

Es sei zu erwarten gewesen, dass radikale Kräfte sich einer multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft entgegenstellen. "Nicht erwartet, wenn nur befürchtet, hatte ich, dass demokratische bürgerliche Parteien deren Bedenken stark aufgreifen und damit immer wieder sicher unbedacht und ungewollt Resonanzboden für deren Berechtigung bieten." Deutschland werde immer weniger attraktiv für international tätige Menschen, Personen mit Migrationshintergrund seien beruflich oft benachteiligt, obwohl die deutsche Wirtschaft nachweislich von kultureller Vielfalt und Inklusion profitiere. Es mangele an entschlossener und lösungsorientierter Politik.

Laut Wulff fordern der immer stärker werdende Pluralismus und die Konzentration auf eigene Befindlichkeiten den gesellschaftlichen Zusammenhalt heraus. Dieser fuße darauf, "dass wir uns öfter mal auch hinter das große Ganze, hinter die Gemeinschaft stellen". Die Religion gebe vielen Menschen in der Suche nach Orientierung Halt, doch ihre Rolle verändere sich. Er plädierte für religiösen Pluralismus: "Jemand anderem gegenüber verantwortlich zu sein, am Ende des Lebens Rechenschaft abzulegen: das motiviert Muslime, Juden und Christen, einen verantwortungsbewussten und respektvollen Umgang mit unseren Nächsten, mit unserem Leben insgesamt, mit der Schöpfung, zu führen."

Vielfalt werde aber von Teilen der Gesellschaft als Belastung oder Bedrohung wahrgenommen. Das sei Nährboden für Populisten und Polarisierung, "die mit Ängsten und Sorgen spielen und diese missbrauchen, um Menschen gegeneinander aufzubringen." Der Bundespräsident a.D. würdigte die Massendemonstrationen gegen rechten Hass und Gewalt in diesem Jahr und regte an, sich mehr in demokratischen Parteien zu engagieren, Ämter und Verantwortung für die Zivilgesellschaft zu übernehmen. "Europa und die Demokratie brauchen jede und jeden von uns."

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