Stadion-Logik
Und? – Für wen bist Du?
Das war eine Frage, die mir als Kind oft gestellt wurde:
Bayern oder Sechz‘ger?
Ich war schon damals nicht besonders fußballbegeistert und habe mich, wann immer möglich, enthalten. So mache ich es bis heute.
Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist, liebe Hörerinnen und Hörer, vielleicht sind Sie ja Fan einer Mannschaft und fiebern bei der Bundesliga mit? Wenigstens bei der EM werde auch ich für die eine oder andere Mannschaft mitfiebern. Es muss nicht immer die eigene sein.
Einmal war ich bei einem Bundesliga-Spiel im Stadion. Wer da in der Fan-Kurve für die andere Seite jubelt, ist unten durch. "Stadion-Logik" nenne ich das. Die oder wir!
Zu wem hältst du?
Dieses Spiel von Freund und Feind bestimmt heute mehr und mehr auch unsere Gesellschaft. Wer für die CSU ist, muss alles, was von den Grünen kommt, doof finden. Und wer für die SPD ist, kann nichts, was von der CDU kommt... aber Moment mal. Waren die nicht vorher noch in einer gemeinsamen Regierung?
Während der Corona-Zeit war es die Frage ob geimpft oder ungeimpft. An dieser Frage sind Freundschaften zerbrochen. In den USA: Trump oder Biden. Viele Gesellschaften sind tief zerstritten. Immer gibt es zwei Seiten, die sich gegenüberstehen.
Auch wenn es um Krieg geht.
Seit dem barbarischen Überfall von Hamas-Terroristen auf zivile Dörfer und Lebensgemeinschaften tobt ein Krieg im Nahen Osten, in dem täglich viele Menschen, die dort leben, sterben.
Und? Auf wessen Seite stehst Du also?
Die Diskussion ist stark polarisiert. Jeder muss eine Seite wählen. Aber wie könnte ich das? Die Taten der jeweils anderen Seite sind zu furchtbar:
Wie kannst Du nur auf der Seite Israels stehen? Sie haben durch ihre Angriffe so viele Menschen getötet! Frauen und Kinder!
Und du: Wie kannst Du für die Palästinenser sein? Sie erlauben den Terroristen der Hamas doch immer noch, dass sie sich hinter Zivilisten verstecken. Die legen es doch darauf an, dass Frauen und Kinder getötet werden. Und was ist mit den Geiseln? Leben die noch? Wie geht es ihnen?
Auf welcher Seite also stehst Du?
Die Stadion-Logik hilft hier nicht weiter. Es reicht nicht, für eine Seite die Fahne zu schwingen. Als wäre es so einfach und eindeutig…
Mich beschäftigt viel mehr eine andere Frage:
Wie kann der Streit, wie kann der Krieg wieder aufhören?
Wie soll das Ende aussehen? Welche Perspektive gibt es?
Wie träume ich mir eine Welt danach?
Apokalypse
Am Ende der Bibel im Buch der Offenbarung lese ich auch vom Kämpfen und Siegen und - vom Träumen.
Da werden über viele Seiten hinweg Kämpfe und furchtbare Plagen und Blutströme beschrieben. Wenn ich dieses Buch der Bibel unvoreingenommen lese, kann ich es kaum ertragen. Aber das Buch hat eine Geschichte:
Der Text bezeugt eine finstere Phase des Christentums: Der Kaiser von Rom nutzt die noch schwache Kirche gerne als Sündenbock. Christen werden als Verräter verdächtigt. Um ihre Treue zum Römischen Reich und zum Kaiser zu beweisen, müssen sie vor dem Kaiser-Standbild opfern. Die Christen geraten in höchste Gewissensnot. Entweder verweigern sie den Gehorsam, dann werden sie gefoltert und getötet, oder sie opfern – und verraten das, was ihnen am wichtigsten ist, ihren Gott. Viele wählen die Treue – und den Tod.
Ein Seher mit Namen Johannes träumt von einem ganz anderen Ende, seine Visionen schreibt er auf. Er sieht eine letzte große Schlacht: Gottes Heer gegen die Mächte Roms. Für Johannes ist der Kaiser ein böses Tier. Sein Name wird nicht genannt, nur eine Chiffre: Die Zahl 666. Jeder damals weiß, wer gemeint ist.
Ein Siegeslied?
Mitten in der Erzählung von Kampf und Tod findet sich eine kleine Szene.
Und ich sah, wie sich ein gläsernes Meer mit Feuer vermengte.
Und die den Sieg behalten hatten über das Tier und sein Bild und über die Zahl seines Namens, die standen an dem gläsernen Meer und hatten Gottes Harfen und sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes:
Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott!
Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker.
Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen?
Denn du allein bist heilig!
Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir, denn deine Urteile sind offenbar geworden. (Offenbarung 15,2-4)
Das stehen sie und singen. Es sind wohl die Seelen der Hingerichteten. Sie stehen an einem gläsernen Meer. Das ist das Gewölbe des Himmels. Man dachte, der Himmel ist eine große Glocke aus Kristall. Durchsichtig. Über der Glocke das Ur-Meer – blau. Wir sehen es als Himmel.
Feuer hat sich in das Wasser gemischt, ein Gewitter droht. Feuer im Wasser, Blitze in den Wolken.
Trotzdem ist es friedlich da oben über dem himmlischen Meer, nahe bei Gottes Thron.
Die Wesen spielen himmlische Instrumente und besingen Gott:
Er allein ist mächtig. Kein weltlicher Herrscher hat diese Macht.
So malt der Seher Johannes sein Bild von der erlösten Zukunft: Am Ende der Zeit werden alle Völker zu Gott strömen, nicht als Unterworfene, als Befreite. Im Frieden.
Was Johannes beschreibt, fühlt sich eigenartig zweischneidig für mich an. Ja, es ist ein schönes Bild. Mich berührt vor allem, wie die Wesen, die da oben singen, beschrieben werden:
Sie sind Zeugen. Sie haben nicht gekämpft, ihr Sieg ist ganz anders. Sie waren treu.
Sie singen ein Siegeslied. Zu früh?
Sie singen von der Zukunft, die noch verborgen ist, die sich aber zeigen wird – ganz gewiss.
Das Lied der himmlischen Musiker ist tröstlich. Es soll jene, die noch mitten im Kampf stehen, ermutigen. Haltet durch! Verzweifelt nicht!
Und trotzdem stört mich was an diesem Lied. Ich kann nicht so ohne weiteres mitsingen. Ich selbst bin nicht am Kampf beteiligt. Und auf der Seite Roms stehen doch auch Menschen. Sind sie so gar keiner Erwähnung wert?
Die himmlischen Wesen singen ein Lied, so, wie es auch Mose am Schilfmeer einst gesungen hat[1]. Das Volk der Israeliten flieht aus Ägypten, die Soldaten des grausamen Pharaos, des Königs von Ägypten, ertrinken im Meer. Reiter und auch Pferde.
Ein Triumph? Weil Gott siegt?
Ein jüdischer Kommentar zum Lied des Moses stellt genau diese Frage:
Freut sich Gott etwa am Untergang der Ägypter?
Als sie die Vernichtung der Ägypter sahen, wollten die Engel im Himmel einen Gesang anstimmen, aber Gott gebot ihnen Schweigen und sprach:
"Das Werk meiner Hände ertrinkt im Meer, und ihr wollt singen!" (Talmud[2])
Fantasien für eine Zeit danach
Wie soll die Zeit der Kriege enden? Auch wenn es mir unwahrscheinlich erscheint: Es wird eine Zeit nach dem Ukraine-Krieg geben. Es wird eine Zeit nach Putin geben. Und eine Zeit nach den totalitären Regimen, die jetzt so übermächtig wirken.
Diktaturen enden. Auch die mächtigsten Männer sterben.
Wie wird es dann sein?
Was wird sein, wenn der Krieg vorbei ist, alle Kriege, wenn die letzte Rakete geflogen, die letzte Bombe explodiert und der letzte Zivilist gestorben ist. Ich denke, wir brauchen eine Vision von der Zeit danach. Vielleicht hilft sie uns ja, schneller zum Frieden zu finden.
Von großen Kämpfen und Siegen erzählen auch viele Fantasy-Bücher. Die lese ich so gerne, denn die Geschichten lenken sie mich so schön ab von den Dingen des Alltags, Trotzdem sind sie nicht belanglos. Große Fragen werden gestellt, auch die von Gut und Böse.
Zwei Fantasy-Bestseller werden wohl noch lange nach uns gelesen werden: "Harry Potter" und "Der Herr der Ringe".
Beide erzählen vom Kampf zwischen Licht und Finsternis, Gut und Böse. Welcher Seite man jeweils den Sieg wünscht, ist eigentlich klar.
Harry Potter
Niemand, den ich kenne, hält zum finsteren Lord Voldemort, der, dessen Name nicht genannt werden darf. Das ist fast so wie bei der Zahl 666, die den Namen des Kaisers in der Offenbarung des Johannes ersetzt.
Alle Leserinnen und Leser halten zu den Guten. Zu Harry, Hermine, Ron und den vielen anderen auf der Zauberschule Hogwarts.
Tapfer bekämpfen sie den finsteren Gegner, der seine Seele in viele Teile zersplittert hat, um unsterblich zu werden. Ganz am Ende stirbt Voldemort – an seinem eigenen Todesfluch, den er auf Harry Potter schleudern will.
Nach dem Sieg kehrt Harry in die Große Halle der Schule zurück. Dort sieht er viele Tote und Überlebende, Freunde und Feinde. Die Leute wollen ihm gratulieren, aber er sucht ein wenig Ruhe. Er verbirgt sich unter seinem magischen Tarn-Umhang und beobachtet: Er sieht seine Freundin Ginny, traurig und erschöpft. Er sieht die Familie Malfoy. Sie haben – aus Angst – zu den Anhängern Voldemorts gehalten. Und jetzt sitzen sie zwischen all den anderen, unbehelligt. Keiner stört sich an ihnen. Ist das schon ein Zeichen der Vergebung? Die Toten der beiden Seiten werden vom Schlachtfeld geholt und abgelegt. Getrennt zwar, aber auf gleiche Weise würdevoll. Harry trifft seine engsten Vertrauten, Ron und Hermine. Gemeinsam sehen sie sich um.
An der Marmortreppe fehlten große Stücke, Teile des Geländers waren weg, und als sie hinaufstiegen, stießen sie alle paar Schritte auf Trümmer und Blutflecken.
Irgendwo in der Ferne konnten sie Peeves [den Poltergeist] durch die Korridore sausen und ein selbst verfasstes Siegeslied singen hören:
Wir ham sie vermöbelt, Klein Pot-ter, der war’s,
Und Vol-dy, der modert, und wir ham jetzt Spaß!
"Da wird einem erst richtig klar, was für eine große Tragödie das war, oder?", sagte Ron und drückte eine Tür auf, um Harry und Hermine durchzulassen.
Das Glück würde kommen, dachte Harry, aber im Augenblick war es von Erschöpfung überdeckt, und der Schmerz über den Verlust von Fred und Lupin und Tonks versetzte ihm alle paar Schritte einen Stich wie eine körperliche Wunde.
So sieht es also nach dem Kampf aus.
Nur Peeves, der Poltergeist singt ein Siegeslied. Ron kommentiert es. Er findet den gackernden Triumph über den Feind geschmacklos.
Nach dem Krieg. Die Stadion-Logik ist endlich überwunden.
Da mag Peeves noch so poltern und jubeln, der Sieg über das Böse ist kein Triumph. Der Gegner, Voldemort, ist tot –nicht durch einen tödlichen Fluch von Harry Potter, sondern durch seine eigene Hand. Was für ein Segen! Harry musste nicht selbst den tödlichen Fluch sprechen.
Das Gute, das Harry und alle seine Freunde verkörpern: Hier wird es greifbar. So wird es bestätigt. Sie entwürdigen ihre Feinde nicht, ja, und das Böse besiegt sich selbst. Der ehemalige Feind wird nicht nachträglich erniedrigt oder gequält.
Der Herr der Ringe
Und bei Tolkien, "Der Herr der Ringe"?
Auch da gibt es einen machtgierigen Zauberer: Sauron - und Saruman, der ihm als Handlanger hilft. Auf der anderen Seite die, die für das Gute kämpfen: Die liebenswerten Hobbits, Frodo und Samweis, Merry und Pippin - und noch ein paar andere.
In dieser Geschichte muss zur Befreiung ein Ring zerstört werden. Ein Ring mit unermesslicher Macht. Dazu müssen Frodo und Sam das Zentrum des Bösen, einen Vulkan, erreichen. Ihr Weg führt durch finstere und gefährliche Gegenden. Während Frodo und Sam sich mühsam zum Vulkan schleppen, toben andernorts furchtbare Schlachten.
Aber auch hier endet die Macht des Bösen nicht durch einen Schlag der Guten. Der Ring fällt in den Vulkan, die Macht des Diktators ist vernichtet. Am Ende sind alle vereinigt; und sie feiern den Sieg.
Und das ganze Heer lachte und weinte, und inmitten ihrer Fröhlichkeit und Tränen erhob sich die klare Stimme des Sängers wie Silber und Gold, und alle Mannen waren still. Und er sang bald in der Elbensprache, bald in der Sprache des Westens, bis ihre Herzen, von süßen Worten verwundet, überflossen und ihr Glück sie wie ein Schwert durchbohrte und sie in Gedanken in Gefilden weilten, wo Schmerz und Freude ineinander übergehen und Tränen der Wein der Glückseligkeit sind.
Schmerz und Freude, kein brüllender Triumph, verletzte Seelen, Weinen und Lachen, Erleichterung und Trauer. Der Krieg ist kein Selbstzweck, die Opfer sind bitter.
Lieder am Ende des Kriegs
So klingen Siege, so klingen Lieder am Ende von Kriegen.
Bei "Der Herr der Ringe" – der Sänger.
Peeves, der Poltergeist bei Harry Potter.
Und Johannes, der Seher, im letzten Buch der Bibel:
Sein Lied endet versöhnlich: Alle Völker – auch die befeindeten Römer – werden eingeladen, sich am Ende dem Frieden zuzuwenden.
Es gibt keinen Grund, sich gegenseitig zu töten. Zu hassen.
Am Ende müssen wir doch wieder zusammenleben. Klar, es gibt unterschiedliche Meinungen. Natürlich gibt es Streit. Aber müssen wir im anderen unbedingt den Feind sehen?
Diese Lieder am Ende des Krieges zeigen: Nein. Am Ende gehören wir doch zusammen.
Das Gift des Krieges überwinden
Kriege vergiften Gesellschaften auf Jahrzehnte. Misstrauen, Wut, Hass, Traumata und Depressionen machen die Menschen krank. Das Freund-Feind-Denken wird davon immer neu angefeuert. Damit dieses furchtbare innere Feuer aufhören kann, muss das alles sorgfältig angeschaut werden – am besten gemeinsam.
Jesus ruft dazu auf, die Feinde zu lieben. Das kann ich nicht romantisch deuten. Es geht nicht um einen Affekt, um ein Gefühl, es geht vielmehr darum, den anderen – wieder – als Mensch zu sehen.
Feindesliebe kann konkret so aussehen: Alle Menschen, die am Krieg beteiligt waren, beginnen, neu miteinander zu reden. Sie weinen gemeinsam um das, was sie verloren haben, geliebte Menschen, Heimat... Lokale Gerichte stellen ein neues Gefühl der Gerechtigkeit her, Gesprächsrunden helfen, den Schmerz der anderen zu erkennen.
In einigen Ländern, in denen schreckliche Bürgerkriege gewütet haben, übt man das schon. Südafrika, Ruanda und Chile. Von solchen Ländern kann man sich abschauen, wie das gelingen kann.
Der allmächtige Gott
Herr, allmächtiger Gott!
Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker.
Du allein bist heilig.
So klingt das Lied in der Bibel, in der Offenbarung.
Wenn am Ende alle Völker gemeinsam mit dem Volk Gottes zum Berg Zion kommen, dann gibt es keine Regierungen mehr, nicht in der Mehrzahl, dann ist alles anders, verwandelt und weit: Du allein, Gott. Nie wieder das dumme Denken in Lagern, keine Stadion Logik mehr, keine trennenden Gräben keine Mauern, keine Panzer.
Brücken, Verbindungswege, Übergänge. Alles verbindet, nichts mehr, was trennt. Und kein anderer Machthaber hat das Sagen.
Das bedeutet für mich das Wort "allmächtig": Der allmächtige Gott. Keine Macht mehr. Für niemanden.
Du allein, Gott.
Die Evangelische Morgenfeier
"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."
Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.
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