Sätze wie dieser fallen schon mal in Klassenräumen: "Johanna*, mach bitte mit, oder geh raus", fordert Lehrerin Anne-Katrin Rittmeyer-Breu eine ihrer Drittklässlerinnen auf. Allein: Der Satz ist keine Drohung an die Adresse eines renitenten Störenfrieds - sondern ein ernsthaftes Angebot.

Denn die Tür des Zimmers, in dem Rittmeyer-Breu mit gerade mal fünf Grundschülern auf dem Boden sitzend kleine Satzbausteine in Reih und Glied bringt, steht ohnehin offen. Und "draußen" wartet kein leerer Korridor. Sondern eine Kollegin, die mit einem weiteren Schützling die Schwierigkeiten des korrekten Lesens und Schreibens durchgeht, während ein Zimmer weiter ein gutes Dutzend Schüler schon die "höfliche Anrede" eines Briefs nahegebracht bekommen.

Montessori-Schule und die Aktion Sonnenschein

An der Montessori-Schule der Aktion Sonnenschein im Münchner Südwesten laufen ein paar Dinge anders, als die meisten Erwachsenen das aus der eigene Schulzeit kennen. Seit 1970 lernen hier Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zusammen. Mittlerweile von der Grundschule bis in die Sekundarstufe. Auch eine Berufsschulstufe für Schüler mit geistiger Behinderung gibt es. Gleich nebenan ist eine heilpädagogische Tagesstätte zu finden.

"Gemeinsame Bildung für Menschen mit und ohne Behinderung soll selbstverständlich werden", so ist es auf der Homepage der Bundesregierung zu lesen. Als der Kinderarzt Theodor Hellbrügge 1968 die Aktion Sonnenschein gründete war das aber noch ganz anders. Sein Plan, Kinder mit und ohne Behinderung zusammen lernen zu lassen, verstieß seinerzeit gegen das bayerische Schulrecht.

Bildung für Menschen mit Behinderung

"Das hat Professor Hellbrügge aber nicht interessiert", sagt Christian Leins, Mitarbeiter der Aktion Sonnenschein. Damit die Vision des Arztes Realität werden konnte, habe es aber etwas Glück gebraucht: 1973 erhielt Hellbrügge die Theodor-Heuss-Medaille für sein Engagement für behinderte Kinder. Die Auszeichnung wurde praktisch zur Lebensversicherung für die mutige Idee.

Nichtsdestotrotz wurde das inklusive Lernen sehr lange "kritisch beäugt", wie Schulrektor Heribert Riedhammer erzählt. Selbst in den 80er- und 90er-Jahren sei "der Inklusionsgedanke 'draußen' noch gar nicht vorhanden gewesen". Mittlerweile ist Inklusion offizielles Bildungsziel. Und auch wenn Hellbrügge Anfang 2014 verstorben ist: In der Münchner Schule wird das Konzept weiter ausgebaut.

Bildungsdorf als Konzept für Schulen

Seit 2006 etwa gibt es das Konzept des Bildungsdorfes: Je eine Jahrgangsstufe à vier Klassen teilt sich einen Bereich, betreut von sechs Pädagogen (5 Lehrer und ein Erzieher). Die Kinder können sich freier bewegen - und die Lehrer auf die Schüler eingehen. "Es hat Vorteile, wenn man sich besser kennt, das Vertrauen ist größer", sagt Riedhammer. "Das Schöne ist, dass man wirklich konzeptionell arbeiten kann, wirklich im Sinne von Inklusion." Den Platz dafür bietet seit 2016 ein neuer Erweiterungsbau.

Riedhammer sieht "tolle Ergebnisse". Nicht nur, dass bei vielen Schülern in der inklusiven Montessori-Schule die "Schulangst schnell verfliegt": Es gebe auch eine zusätzliche Toleranz für einander: "Die Kinder nennen ihre Mitschüler auch behindert - das ist aber gar nicht schlimm, die dissen einander damit nicht", sagt Riedhammer. Und: "Dass die Kinder einander körperlich angehen, wie man es von anderen Schulen manchmal hört, das gibt es hier einfach nicht."

Abschluss für behinderte Kinder

Zudem schafften fast alle Kinder einen Abschluss - auch wenn die "leistungsstärkeren" meist nach der vierten Klasse wechseln. Noch bedeutsamer ist laut Riedhammer aber die charakterliche Bildung: "Wirklich wichtig ist, dass die Schüler Rückgrat haben, dass sie würdige, emanzipierte Menschen sind."

Sorgen bereitet allerdings das ewige Thema Geld: Allein das Bildungsdorf-Konzept mit zusätzlichen Pädagogen koste 1,3 Millionen Euro im Jahr berichtet Leins. Deshalb braucht das außergewöhnliche Konzept bis heute Spenden. Wenn die Aktion Sonnenschein nun ihr 50-Jähriges Jubiläum 2018 mit Kabarett-Vorstellungen, Benefizkonzerten oder auch einem Fußballturnier unter Schirmherrschaft Paul Breitners feiert, dann vor allem, um Theodor Hellbrügges Visionen auch in den nächsten 50 Jahren weiter auszubauen.