Die Zahl antimuslimischer Übergriffe und Diskriminierungen in Deutschland hat im Jahr 2024 einen neuen Höchststand erreicht. Nach Angaben des zivilgesellschaftlichen Netzwerks CLAIM wurden insgesamt 3.080 Vorfälle dokumentiert – ein Anstieg um rund 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Das entspricht im Schnitt mehr als acht Angriffen täglich. Die Bandbreite der gemeldeten Taten reicht von Beleidigungen und tätlichen Angriffen über Diskriminierung in Behörden bis hin zu Brandstiftung und Mord.
Gewalt, Diskriminierung, Ausgrenzung – und eine neue Eskalationsstufe
"Wir erleben in Deutschland eine neue Eskalationsstufe antimuslimischer Gewalt, Diskriminierung und Ausgrenzung", sagt Rima Hanano, Co-Geschäftsführerin von CLAIM. Besonders alarmierend sei dabei nicht nur der quantitative Anstieg, sondern auch die "zunehmende Normalisierung, Enthemmung und Brutalität", mit der Übergriffe erfolgen.
Moscheen werden mit Hakenkreuzen beschmiert, Frauen mit Kopftuch in öffentlichen Verkehrsmitteln bespuckt, Kinder auf dem Schulweg beschimpft.
Die dokumentierten Vorfälle zeigen, wie weit sich antimuslimische Ressentiments in Alltag und Institutionen verbreitet haben – von der Straße bis ins Rathaus, vom Klassenzimmer bis zum Wohnungsmarkt. Das vollständige Lagebild ist auf der Seite von CLAIM abrufbar.
Frauen und Kinder besonders betroffen
Laut CLAIM waren in 71 Prozent der dokumentierten Fälle, in denen das Geschlecht der betroffenen Personen bekannt ist, Frauen Ziel der Übergriffe – vor allem sichtbar muslimische Frauen. Auch Kinder sind häufig betroffen.
Beispiele aus der Bilanz reichen von verbalen Attacken durch Gleichaltrige über Bedrohungen durch Erwachsene bis hin zu körperlicher Gewalt.
Einige Einzelfälle verdeutlichen die reale Gefahr:
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In Dresden wurden zwei 13-jährige Mädchen mit Hijab von Rentnerinnen als "Kopftuchjuden" beschimpft und tätlich angegriffen.
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In Berlin-Spandau wurde eine Frau an einer Bushaltestelle beleidigt, ihr das Kopftuch heruntergerissen und der Kopf gegen eine Scheibe geschlagen.
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In Stralsund übergoss ein Nachbar einen syrischen Mann mit hochkonzentrierter Schwefelsäure.
Moscheen, Schulen, Jobcenter: Rassismus in allen Lebensbereichen
Insgesamt wurden 70 Angriffe auf Moscheen und andere religiöse Einrichtungen registriert. Auch Diskriminierungen im öffentlichen Dienst mehren sich. In Hessen wurde einer Frau im Jobcenter die Antragsannahme mit dem Hinweis verweigert, sie habe mit ihrem Aussehen ohnehin keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
In einer Schule in Baden-Württemberg berichtete eine Schülerin davon, dass ein Klassenkamerad ihr androhte, "Schweinefleisch in den Mund zu stecken".
Die Angriffe zielen nicht nur auf religiöse Ausdrucksformen, sondern auch auf die soziale und politische Teilhabe von Muslim*innen in Deutschland. Viele Betroffene verlieren laut CLAIM durch wiederholte Erfahrungen von Ausgrenzung das Vertrauen in staatliche Institutionen – ein gefährlicher Befund in einer demokratischen Gesellschaft.
Eskalation nach dem 7. Oktober
Ein signifikanter Anstieg antimuslimischer Vorfälle wurde insbesondere nach dem terroristischen Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 festgestellt – parallel zu einem Anstieg antisemitischer Vorfälle.
Mediale und politische Debatten, in denen der Islam als Bedrohung oder Muslim*innen pauschal als Sicherheitsrisiko dargestellt wurden, hätten demnach konkrete Folgen gehabt, so die Analyse des CLAIM-Netzwerks.
Auch nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg im Dezember 2024 kam es laut Lagebild im Raum Magdeburg zu einer Häufung von Bedrohungen und Übergriffen gegen Menschen, die muslimisch gelesen werden. Der Täter selbst wurde aufgrund seines arabischen Backgrounds von vielen als "muslimisch" wahrgenommen, obwohl er Atheist und offenbar auch Islamhasser war.
Hohe Dunkelziffer und strukturelle Probleme
Ein weiteres Problem ist laut CLAIM, dass viele Vorfälle gar nicht gemeldet werden. Entweder würden sie nicht als antimuslimisch erkannt oder die Betroffenen wendeten sich aus Angst oder Misstrauen nicht an die Polizei oder Beratungsstellen. Die tatsächliche Zahl dürfte also deutlich höher liegen als die dokumentierten Fälle.
Das deckt sich auch mit den Daten des NaDiRa-Rassismusmonitors am DeZIM-Institut. Dessen Leiter Dr. Cihan Sinanoğlu spricht von einer "tiefgreifenden Realität im Alltag vieler Menschen".
Besonders problematisch: Wer Diskriminierung durch staatliche Institutionen wie Polizei oder Behörden erfährt, verliere das Vertrauen in diese – und damit in die demokratische Ordnung. Unter Muslim*innen sei das Vertrauen in politische Repräsentant*innen inzwischen niedriger als in jeder anderen untersuchten Bevölkerungsgruppe.
Politische Reaktionen und Forderungen
Die Integrations- und Antirassismusbeauftragte der Bundesregierung, Natalie Pawlik, betont die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Arbeit:
"Gewalt, Ausgrenzung und Beleidigungen gegen Musliminnen und Muslime sind Alltag in Deutschland. Das dürfen wir nicht akzeptieren."
Sie fordert, dass antimuslimischer Rassismus klar benannt und bekämpft werden müsse – durch Politik, Gesellschaft und Zivilgesellschaft gleichermaßen.
Das zivilgesellschaftliche Lagebild 2024 enthält zehn zentrale Handlungsempfehlungen zur Bekämpfung antimuslimischen Rassismus. Dazu zählen:
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Eine verbesserte Erfassung von Vorfällen,
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flächendeckende, professionelle Beratung und Schutzangebote für Betroffene,
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eine strukturelle Finanzierung zivilgesellschaftlicher Arbeit sowie
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ein neuer Nationaler Aktionsplan gegen Rassismus, der antimuslimische Diskriminierung klar benennt und mit konkreten Maßnahmen bekämpft.
Statistische Einordnung
Die offiziellen Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik bestätigen den Trend: Laut der Statistik zur politisch motivierten Kriminalität (PMK) wurden 1.848 islamfeindliche Straftaten im Jahr 2024 registriert – ein Anstieg um 26 Prozent im Vergleich zu 2023. CLAIM arbeitet darüber hinaus mit 26 regionalen Melde- und Beratungsstellen sowie dem bundesweiten Meldeportal "I Report" zusammen.
Die häufigsten Formen der dokumentierten Vorfälle waren:
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Verbale Angriffe (1.558 Fälle, 55,6 %),
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Diskriminierung (659 Fälle, 23,5 %),
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Verletzendes Verhalten (585 Fälle, 20,9 %).
Insgesamt wurden 198 Körperverletzungen, zwei Tötungsdelikte, 122 Sachbeschädigungen und vier Brandstiftungen dokumentiert. Die Eskalation der Gewalt ist somit nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ spürbar.
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