Der Armutsforscher Christoph Butterwegge sieht das 9-Euro-Ticket als "soziales Trostpflaster" für arme Menschen. Reiche Menschen profitierten weitaus mehr vom Tankrabatt im Entlastungspaket der Bundesregierung, sagte der emeritierte Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln dem Sonntagsblatt. Dennoch sei der Andrang auf die Fahrkarte auch deshalb so groß, weil Arme sie dringend benötigten, um sich Besuche zu Freunden und Verwandten leisten zu können.

Ticket reicht nicht aus

Um armen Menschen auch soziale Beteiligung wie Ausflüge oder Urlaube zu ermöglichen, reiche das Ticket allerdings nicht aus, warnte Butterwegge. Das liege an einer zunehmenden Kommerzialisierung des öffentlichen Raums: Früher habe zum Beispiel der Schwimmbadeintritt wenige Pfennig gekostet und sei auch für Arme bezahlbar gewesen. Wer dagegen heute mit seinen Kindern ins Spaßbad gehe, sei gut beraten, einen 50-Euro-Schein dabei zu haben.

Der Staat habe seine Verantwortung gegenüber Armen extrem stark zurückgefahren, kritisierte Butterwegge:

"Das ist inzwischen leider so normal, dass die Menschen es gar nicht mehr merken."

Kostenloser Nahverkehr

Insgesamt sei das 9-Euro-Ticket aber ein guter und richtiger Schritt. Besonders für Arme überwögen die Vorteile. Noch wünschenswerter sei aber ein besser ausgebauter und kostenloser Nahverkehr, der sich über eine Nahverkehrsabgabe der Unternehmen für ihre Beschäftigten und hohe Parkgebühren wie in Wien finanziere:

"Ein solches Kollektivsystem wäre effektiver, klimafreundlicher und sozialer."

Dass Menschen mit wenig Geld zumindest viel Zeit hätten, das 9-Euro-Ticket zu nutzen, stimme nicht: Sie müssten viel Zeit investieren, um mit ihrem knappen Geld zu haushalten. Außerdem stünden sie unter großem Druck der Ämter. Um sie nachhaltig zu entlasten, müsse vor allem der Hartz-IV-Regelsatz deutlich erhöht werden, forderte der Professor.

Entlastungspaket verschärft soziale Unterschiede

Auch die vom Bundestag beschlossene Erhöhung des Mindestlohns sei "ein richtiger Schritt". Jedoch sei der bevorstehende Anstieg nicht mehr so groß und zwölf Euro nicht mehr so viel wert wie im Jahr 2017, als der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Erhöhung nach einer für die SPD verlorenen Bundestagswahl gefordert hatte.

Dass angesichts der Folgen des Ukraine-Krieges alle Menschen in Deutschland ärmer würden, wie etwa Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) gesagt hatten, bezeichnete Butterwegge unter Hinweis auf "explodierende Kurse von Rüstungskonzernen" als falsch:

"Manche Aktionäre macht der Krieg eben auch reicher."

So verschärfe das Entlastungspaket der Bundesregierung eine ohnehin bestehende "verteilungspolitische Schieflage" zugunsten Wohlhabender und Reicher.