In einer Zimmerecke stapeln sich Wasserkanister. Die ganze Wand ist zugestellt. Auch Lebensmittel liegen überall in der Wohnung herum. Hier hat sich jemand eingebunkert. Aus Angst, dass es irgendwann kein Wasser und nichts mehr zu essen gibt.

Was die Klientin des Vereins "Fortis" tat, hat sie jedoch nicht nur aus Angst getan: Sie leidet am Messie-Syndrom.

Das Messie-Syndrom

Der vor mehr als 50 Jahren gegründete Verein "Fortis", Mitglied im Diakonischen Werk Württemberg, hat mit Menschen zu tun, die ihre Wohnräume im Chaos versinken lassen. In jüngster Zeit stiegen die Zahlen stark an, sagt Joachim Schönstein, der die gemeindepsychiatrischen Hilfen von "Fortis" in Leonberg leitet:

"Bisher hatten wir oft nur fünf, höchstens zehn Klienten mit dieser Problematik, im Augenblick sind es 17."

Wer Messies helfen wolle, müsse mit Feingefühl zu Werke gehen, sagt Schönstein. Denn das Thema sei extrem schambesetzt. Wer will schon fremde Menschen in seine Wohnung lassen, wenn diese vermüllt und verdreckt ist?

Verein "Fortis" hilft mit Feingefühl

Das Team von "Fortis" fährt deshalb mit einem neutralen Auto zu seinen Klienten. Nie werden riesige Mengen auf einmal aus der Wohnung getragen. Die Nachbarn, erklärt Schönstein, sollen nicht mitbekommen, warum die Räumungshelfer von "Fortis" anrücken.

Bei den Betroffenen handelt es sich oft um Menschen mit seelischen Leiden, erläutert der Familientherapeut: "Unsere Klienten haben zum Beispiel häufig die psychische Störung ADHS."

Die Corona-Krise habe sich negativ ausgewirkt. So hätten Menschen in der Zeit, in der sie sehr viel zu Hause waren, noch mehr als sonst im Internet bestellt.

Corona-Krise verstärkte Messie-Tendenzen

"Dadurch ist viel zusätzliches Material in die Wohnungen gekommen." Gegenstände, erläutert Schönstein, haben für Messies eine wichtige Funktion: "Sie ersetzen Beziehungen." In der kontaktarmen Corona-Zeit sei diese Funktion noch wichtiger geworden.

In der Klinik des Psychiaters Dominikus Bönsch aus dem unterfränkischen Lohr landen immer wieder Menschen, die horten, was sie in die Finger bekommen. "Wir hatten jedes Jahr bis zu 30 Patienten, deren Wohnungen zwangsgeräumt werden mussten", berichtet der Psychiatrieprofessor. Nach seiner Einschätzung hat die Problematik deutlich zugenommen. Es sei allerdings schwierig, dies mit Zahlen zu untermauern. Was daran liegt, dass die internationale ICD-10-Klassifikation von Erkrankungen die Diagnose "Messie-Syndrom" nicht aufführt.

"Manchmal genügt ein einziger Schicksalsschlag und man wird zum Messie", sagt Maria Andrea Hüttinger, die Vorstandsvorsitzende des Berliner Vereins "Freiraum Ordnungshilfe".

Sie hat schon viele vermüllte Wohnungen gesehen. In manche komme kaum noch Licht hinein, berichtet sie, denn "die Hälfte des Fensters ist verdeckt". Wochenlang kam offensichtlich niemand mehr auf die Idee, die Brösel vom Tischtuch zu schütteln. Der Abfall quillt über. Es riecht schrecklich. "Manchmal muss ich gegen Brechreiz ankämpfen", schildert Hüttinger ihre Erlebnisse.

Extreme Ausmaße des Messie-Syndroms

"Manche Messies können nicht mehr in ihrem Bett schlafen, sie legen sich davor auf den Boden", berichtet Michael Schröter, Gründer der ersten deutschen Messie-Akademie in Gauting bei München. Der 71-Jährige befasst sich seit 20 Jahren mit dem Messie-Syndrom. Aus seinem ersten Messie-Hilfe-Team sind inzwischen 20 bundesweit aktive Hilfstrupps geworden.

Schröter schätzt die Zahl der Messies in Deutschland auf "mindestens drei Millionen Menschen". Offizielle Zahlen gibt es nicht.

Messies suchen laut Schröter in der Regel erst dann Hilfe, wenn der Druck extrem groß geworden ist: "Es kann zum Beispiel sein, dass Handwerker wegen eines Wasserrohrbruchs in die Wohnung kommen müssen." Manchmal droht auch der Verlust der Wohnung. "Im allerbesten Fall schaffen wir es, dass eine bereits ausgesprochene Kündigung durch unsere Hilfe wieder zurückgenommen wird", sagt Schröter.

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