Neben der KZ-Gedenkstätte Dachau verfällt seit Jahren zusehends das Gelände der ehemaligen SS-Unternehmung "Deutsche Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung GmbH" (DVA). 2019 hat die Gedenkstätte deshalb die Historikerin Anne Sudrow beauftragt, deren Geschichte "bestmöglich" zu erforschen.
Herausgekommen ist eine zweibändige Studie, die vor wenigen Tagen erst veröffentlicht wurde und am 30. September offiziell vorgestellt werden soll. Sudrow erklärt im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd), was es mit den Gewächshäusern und dem Heilkräutergarten auf sich hatte - und welche Kontinuitäten es bis in die heutige Zeit gibt.
Frau Sudrow, die KZ-Gedenkstätte Dachau hat Sie beauftragt, die Geschichte der sogenannten Plantage und des dortigen Heilkräutergartens zu untersuchen. Weshalb, was war der Anlass?
Anne Sudrow: Mein Auftrag war, das SS-Unternehmen "Deutsche Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung GmbH" (DVA) und seine Nachkriegsgeschichte zu untersuchen, da die Geschichte dieses Geländes noch nicht genau erforscht war. Die KZ-Gedenkstätte möchte gerne einen Teil des Geländes, mit dem, was da jetzt noch an Relikten aus der NS-Zeit steht, mit in die Gedenkstätte übernehmen.
Die ehemaligen Gewächshäuser des KZ Dachau sind weitgehend verfallen - inwiefern lohnt es sich aus Ihrer Sicht als Historikerin, diese Gebäude noch zu erhalten?
Das von der DVA genutzte Gelände in Dachau zeigt in ganz besonderer Weise die Verbindung der NS-Zeit zu heute auf - insofern finde ich es sehr wichtig, dass gerade dieses Gelände erhalten und seine Geschichte dargestellt wird. Es gibt direkte Traditionslinien aus deren Versuchen, die bis in unsere heutigen Wissensbestände hineinreichen - diese sollten wir uns einfach bewusster machen. Ein solcher Ort hilft dabei. Dort sind Aspekte der NS-Geschichte zu zeigen, die an anderer Stelle nicht deutlich werden - gerade die SS-Verbindungen zur ökologischen Landwirtschaft.
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse aus Ihrer Forschung rund um die SS-Plantage und den Heilkräutergarten, die so bislang nicht bekannt waren?
Erst einmal habe ich die Gründe für die Entstehung der Anlage in Dachau untersucht und wie die Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Häftlinge dort waren. Der zweite Komplex war, was von der DVA eigentlich produziert wurde und welche wissenschaftlichen Fragen dort mit welchen Methoden erforscht wurden.
Bislang unbekannt war das Ausmaß der Verknüpfungen zwischen dem NS-Regime und dem anthroposophischen biologisch-dynamischen Landbau. Auch die Frage, was genau dort auf dem Gebiet der ökologischen Landwirtschaft gearbeitet wurde, und welche Personen mit der Organisation beschäftigt waren, konnte ich erstmals auf der Basis neuer historischer Quellen klären.
Weshalb hat sich eine Mörder- und Terrorgruppe wie die SS für biologisch-dynamischen Landbau interessiert, dessen Methoden bis heute wissenschaftlich durchaus umstritten sind?
Das waren letztlich die harten Fakten des Eroberungskrieges im Osten. Dort sollte ja Raum für die Siedlung deutscher Bauern erobert werden - doch um diese ganze Fläche zu bewirtschaften, gab's in Nazi-Deutschland nicht genug Kunstdünger. Der dafür notwendige synthetische Ammoniak wurde für die Munitionsproduktion benötigt. Man brauchte also alternative Methoden, um den Ackerbau in diesen Gebieten zu organisieren.
Da kam die SS auf den biologisch-dynamischen Landbau, in dem - der Idee nach - die einzelnen landwirtschaftlichen Betriebe als autarke Kreislaufwirtschaften organisiert sind. Die Betriebe sollten damit von der Versorgung durch Lieferungen aus Deutschland unabhängig werden.
Inwieweit hat das, was wir heute generell unter Bio-Landwirtschaft verstehen, von dieser "Forschung" im KZ-Kräutergarten und von der Zwangsarbeit profitiert?
Untersucht habe ich, inwieweit das Wissen, das im SS-Unternehmen DVA auch mit Zwangsarbeit und zum Teil wissenschaftlich fragwürdigen Versuchsreihen generiert wurde, in die biologisch-dynamische Szene der Nachkriegszeit reicht. Franz Lippert, der bis 1940 den Heilpflanzengarten von Weleda in Schwäbisch Gmünd maßgeblich aufgebaut hat, wechselte 1941 in den Dienst der DVA - und konnte dort in viel größerem Umfang als vorher und mit unzähligen Arbeitskräften Forschungsreihen zum biologisch-dynamischen Anbau durchführen. Seine Erfahrungen und Ergebnisse aus den Versuchsreihen im KZ Dachau hat er nach dem Krieg in einem Handbuch für biologisch-dynamische Landwirte aufgeschrieben.
Dass dieses Wissen danach umfassend von Praktikern und Praktikerinnen des biologisch-dynamischen Landbaus verwendet wurde, sehen wir daran, dass das Buch bis in die 1980er Jahre in anthroposophischen Schriftenreihen immer wieder aufgelegt wurde und eine Verbreitung von vielen Tausend Exemplaren hatte. Auch in weiteren Werken der anthroposophischen Fachliteratur wird Lippert bis heute als Autorität zitiert. Und die Firma Weleda hat ihn nach dem Krieg wieder als Berater engagiert.
Im Zentrum der medialen Kritik steht seit Bekanntwerden ihrer Forschungsergebnisse unter anderem Weleda. Was muss sich das Unternehmen aus Ihrer Sicht vorwerfen lassen?
Es gibt eine Vielzahl von Verbindungen von Weleda ins KZ Dachau über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Die direkten Beziehungen ins KZ Dachau und die Einrichtungen der DVA waren also viel enger als bislang von dem Unternehmen eingeräumt - und in der Forschung bekannt. Man bezog dort Rohstoffe, man hat an den KZ-Arzt Sigmund Rascher Creme geliefert, die er mußmaßlich für seine Unterkühlungsversuche an Menschen eingesetzt hat, man pflegte Austausch und Kontakte mit Rascher und zwei ehemaligen Weleda-Mitarbeitern, die jetzt im KZ Dachau für die SS arbeiteten, man erhielt Besuche von der SS in Schwäbisch Gmünd.
Und betrifft das nur Weleda oder gab es auch nachweislich andere Unternehmen, die enge Kontakte zur DVA im KZ Dachau pflegten?
Weleda ist nur eine Firma von mehreren, die zur DVA Geschäftsbeziehungen unterhielten oder sich für die dortigen Forschungen interessierten. Es gab zum Beispiel die Sauerkraut- und Konservenfabrik Eduard Durach in München, die Erntegut der DVA getrocknet und während der Erntezeit zwei bis drei LKWs täglich aus Dachau erhalten und auch wieder dorthin zurückgeliefert hat.
Oder die Firma Theodor Reinhard in Lorch bei Stuttgart, die Gewürzmischungen für die DVA aus Dachauer Rohstoffen zusammengestellt hat. Oder Rudolf Hauschka und Max Kaphahn, die Gründer des anthroposophischen Unternehmens WALA, die die DVA Dachau besuchten und sich die biologisch-dynamischen Versuche und vermutlich das Verfahren ansahen, mit dem bei der DVA Pflanzensäfte und deren Vitamin-C-Gehalt haltbar gemacht wurde.
Was wäre Ihre Forderung als Historikerin an alle Unternehmen, die damals mit der DVA oder anderen Organisationen im NS-System kooperiert haben?
Zum einen müssten die Unternehmen für eine rückhaltlose Aufklärung sorgen - und da ist eine Auftragsforschung von Personen, die exklusiven Zugang zu den Unternehmensdokumenten erhalten, schlichtweg nicht ausreichend. Es muss sichergestellt werden, dass alle historische Forschung mit einem wissenschaftlichen Interesse uneingeschränkten Zugang zu den Archiven bekommt. Nur so kann auch unabhängig überprüft werden, ob die Ergebnisse der Auftragsforschung wissenschaftlich solide sind.
Der normale, transparente Umgang ist, dass das Unternehmen den Forschern erst einmal die Findmittel des Archivs zur Verfügung stellt - also einen Überblick, was überhaupt im Unternehmensarchiv vorhanden ist. Dann kann man sich einen Eindruck von der Tektonik und den Beständen des Archivs verschaffen und ganz gezielt Akten und Unterlagen anfordern. Das war zum Beispiel bei Weleda bislang für unabhängige Historikerinnen und Historiker nicht möglich.
Was bedeutet das aber für den Verbraucher, wenn er über alles Bescheid wissen muss? Das ist ganz schön anstrengend und aufwendig, oder?
Nun, wir sollten uns als Konsumentinnen und Konsumenten klarmachen, wo die Produkte, die wir täglich nutzen und kaufen, herkommen und was ihre Geschichte ist. Das gilt für billige T-Shirts und ihre Herstellung etwa in Bangladesch ebenso wie für biologisch-dynamisch erzeugtes Gemüse. Das mag anstrengend sein, aber nur so kann man doch selbst fundiert entscheiden, wen oder was man als Käufer unterstützen möchte und wen oder was nicht.