Die Experten sind sich einig: Die Hütte brennt. Und sie meinen damit das bayerische Kita-System. Es fehlt an Betreuungsplätzen, an Fachkräften und vor allem an Geld. Das hat gleich mehrere Folgen. Zum Beispiel können Eltern von kleinen Kindern ohne ausreichende Betreuung selbst nicht arbeiten gehen und verschärfen damit den ohnehin vorhandenen Fachkräftemangel. Zudem haben gerade kleine Kinder aus eher bildungsfernen Haushalten ohne einen Kita-Platz später schlechtere Chancen. Das sind zwei der Ergebnisse einer Expertenanhörung im Sozialausschuss des Bayerischen Landtags am Donnerstag.
Die Expertenanhörung hatte die Grünen-Landtagsfraktion angestoßen. Die Grünen halten eine Reform des im Jahr 2005 erlassenen Bayerischen Kinderbildungs- und -betreuungsgesetzes (BayKiBiG) für dringend nötig. Die pädagogische Arbeit laufe "an der absoluten Belastungsgrenze", sagte Grünen-Fraktionschefin Katharina Schulze. Vielerorts müssten Kita-Gruppen wegen des akuten Personalmangels schließen, genehmigte Plätze könnten aus denselben Gründen nicht belegt und vergeben werden. Grünen-Abgeordnete Julia Post hatte im Vorfeld der Anhörung vor allem eine komplette Neuordnung der Kita-Finanzierung gefordert.
Fabienne Becker-Stoll, Direktorin des bayerischen Staatsinstituts für Frühpädagogik, sagte, dass sich die Chancen von Kindern je nach sozialem Status der Eltern schon vor Beginn der Schulzeit stark unterschiedlich entwickelten. So sei beispielsweise schon ab einem Alter von drei Monaten bei den Fähigkeiten der Kinder je nach sozialer Herkunft eine Kompetenz-Kluft messbar. Kitas könnten als Orte frühkindlicher Bildung ebendiese Kluft deutlich verringern, sagte Becker-Stoll. Denn: Ab der Einschulung könne diese Kluft von den Grund- und weiterführenden Schulen "maximal stabil" gehalten, aber nicht mehr verringert werden.
"In keinem anderen Bundesland gibt es so große Unterschiede in der Qualität wie in Bayern."
Hohe regionale Unterschiede in der Qualität der Kindertagesstätten in Bayern bemängelte bereits vor der Expertenanhörung die Vorständin des Evangelischen KITA-Verbands Bayern, Christiane Münderlein. Sie sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Wenn man in strukturschwache Gebiete fährt, denkt man, man ist in einer anderen Welt." Denn dort könnten Kommunen den Trägern keine regelmäßigen freiwilligen Leistungen geben und Defizite nicht ausgleichen. Zugleich müssten sie von Trägern Mieten für Kita-Räume verlangen: "In keinem anderen Bundesland gibt es so große Unterschiede in der Qualität wie in Bayern."
In strukturschwachen Regionen wie Oberfranken oder West-Mittelfranken würden daher Kinder aus armen Familien später in die Kita kommen, obwohl viele von ihnen Förderbedarf hätten. Die Kitas seien auch personell schlechter ausgestattet. Aber, "wer zum Beispiel für zusätzliche Assistenzkräfte Fördermittel beantragen will, benötigt wieder personelle Ressourcen oder dafür nötige Eigenmittel", stellt die Expertin fest. Beides hätten diese Träger meist nicht.
Die Vertreterin sieht zwar das Kita-System in Bayern nicht wie die Landtagsopposition am Rande eines Kollapses: "Ich will den Teufel nicht an die Wand malen." Sie fordert aber ein "entschiedenes Handeln", um die Lage für die Kitas "verlässlich und auskömmlich" zu machen. "Es ist eine schnelle Änderung der Finanzierung nötig. Noch einmal ein Topf für Sonderleistungen führt nicht zum Ziel", sagte Münderlein. Die Staatsregierung müsse 90 Prozent der Betriebskosten übernehmen. Derzeit seien es 60 Prozent.
Ein weiteres Problem der Kitas ist nach Münderleins Erfahrung der Fachkräftemangel, der besonders stark in Südbayern zu spüren sei: "Kitas können nicht mehr alle Gruppen besetzen oder sie müssen mehr Tage schließen, weil Personal ausfällt." Gute Kinderbetreuung sei aber "die Basis für alles". Sie sichere die Bildung der Kinder, gebe den Eltern Sicherheit und sei so "unabdingbar für den Wirtschaftsstandort". Beschäftigte, die aus Skandinavien, den USA oder Frankreich in den Freistaat kommen, wunderten sich, wenn für ihre Kinder keine zehnstündige Betreuung am Tag gesichert sei. "Wir haben da einen unheimlichen Nachholbedarf."
"Kitas sind Motoren für die Wirtschaft."
Alexa Glawogger-Feucht, Geschäftsführerin des Verbandes katholischer Kindertageseinrichtungen in Bayern, betonte, dass Kitas einen "wesentlichen Anteil" daran hätten, "soziale Unterschiede auszugleichen und Teilhabe zu ermöglichen". Neben der Bildung sei auch der Betreuungsaspekt wichtig: "Kitas sind Motoren für die Wirtschaft." Ein Fachkräftemangel in Kitas, wie man ihn seit Jahren erlebe, ziehe einen Fachkräftemangel in anderen Bereichen nach sich. Lena Sophie Weihmayer vom Paritätischen Wohlfahrtsverband sagte, die Träger hätten selbst viel getan, um den Fachkräftemangel abzufedern - allein: "Es reicht nicht aus."
Kommunale Vertreter schilderten ebenfalls massive Probleme. Patricia Lang-Kniesner, Fachbereichsleitung Kinder und Jugend bei der Gemeinde Höhenkirchen-Siegertsbrunn bei München, sagte: "Für uns als Gemeinde sind Kitas ein enormer Standortfaktor." Allerdings habe man dieses Jahr etwa 100 der vorhandenen Kita-Plätze wegen des enormen Personalmangels nicht vergeben können. Ein weiteres Problem sei die im BayKiBiG festgelegte Finanzierung der Kitas - je ein Drittel Freistaat, Kommune und Eltern. Diese funktioniere längst nicht mehr. "Wir als Kommune mussten vergangenes Jahr 2,6 Millionen Euro Kita-Defizit stemmen." Das sei auf Dauer nicht möglich.
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