Sie haben lange in der Region gelebt und sind regelmäßig vor Ort, etwa im Irak. Wie, glauben Sie, wird es in Syrien weitergehen?
Hans-Martin Gloël: Mein Eindruck ist, dass der Milizenführer Dscholani – oder al-Scharaa, wie er sich mit seinem bürgerlichen Namen inzwischen nennt –, ein erfahrener Politiker ist. Er hat die Region im Nordwesten Syriens, die von der Türkei geduldet und gefördert wird, jahrelang regiert und verwaltet. Dabei hat er Erfahrungen gesammelt, die er nun auf ganz Syrien anwenden möchte. Ich glaube, er hat erkannt, dass die Menschen den Kriegen und den konfessionellen sowie ethnischen Spaltungen überdrüssig sind. Diese Konflikte haben nur zu mehr Leid und Krieg geführt. Daher scheint es, als wolle er vermeiden, dass sich diese Muster wiederholen. Er könnte im besten Falle Syrien als Beispiel präsentieren, wie es anders laufen kann. Ich wünsche ihm, dass ihm das gelingt.
"Für Christen war die Situation unter Assad vergleichsweise gut"
Wie hat sich die Lage der Christ*innen in Syrien durch den Sturz Assads verändert?
In Syrien leben derzeit schätzungsweise 600.000 Christen verschiedener Konfessionen. Die Gesamtbevölkerung beträgt etwa 24 Millionen Menschen. Noch vor einigen Jahren wurde angenommen, dass Christen etwa 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen, doch diese Zahl ist durch die massive Auswanderung in den letzten Jahren deutlich gesunken.
Unter dem Assad-Regime hatten die Christen eine stabilisierende Funktion – zumindest aus Sicht des Regimes. Minderheiten wie die Christen stellten keine Bedrohung für die Herrschaft der alawitischen Elite dar. Vielmehr konnten sie problemlos in Staatsämter berufen werden, ohne dass von ihnen politische Bewegungen zu erwarten waren, die das Regime gefährden könnten. Im Gegensatz dazu galten die Sunniten, die zahlenmäßig größere Gruppe, als wesentlich schwieriger zu kontrollieren.
Für Christen war die Situation unter Assad vergleichsweise gut. Der Präsident pflegte symbolische Gesten wie Besuche zu Weihnachten und die Bereitstellung von kostenlosem Strom für Kirchen und Klöster. Dennoch war bekannt, dass viele Gemeinden und Christen versuchten, sich innerlich vom Regime zu distanzieren – wohl aus Sorge um ihre Unabhängigkeit oder moralische Integrität.

Unser Gesprächspartner
Kirchenrat Hans-Martin Gloël studierte 1990/1991 in Jerusalem im Rahmen des ökumenischen Studienjahres an der Dormition Abbey. Später setzte er sein Studium an der Palästinensischen Bir-Zeit-Universität bei Ramallah fort, wo er Arabisch sowie arabische Literatur und Umgangssprache lernte.
Von 1997 bis 1999 war er als Pfarrvikar in Beirut, Libanon, tätig und war dort für die deutschsprachige Gemeinde zuständig, die auch Predigtstellen in Damaskus und Aleppo unterhielt. Nach seiner Zeit in Beirut leitete er 14 Jahre das Begegnungszentrum Brücke-Köprü in Nürnberg. Aktuell ist er als Referent im ökumenischen Bereich des Landeskirchenamts für die Nahost-Arbeit zuständig, wobei der Schwerpunkt seiner Arbeit auf dem Irak liegt.
Wie schätzen Sie die neuen Machthaber ein?
In der aktuellen Lage sorgt der Rebellenführer al-Scharaa für Überraschungen. Obwohl seine Vergangenheit bei Al-Qaida und dem Islamischen Staat liegt, von denen er sich mittlerweile losgesagt hat, verbreitet er Botschaften, die unerwartet versöhnlich klingen.
Al-Scharaa sagte etwa: "Die Minderheiten müssen keine Sorge haben, wir sind alle Syrer." Das erinnert an die Sprachregelung, die auch unter dem Assad-Regime galt, wo es offiziell um ein geeintes Syrien ging – unabhängig von ethnischen und religiösen Unterschieden. In der Praxis hat das Regime jedoch stets die verschiedenen Gruppen gegeneinander ausgespielt, nach dem Prinzip "divide et impera", also teile und herrsche.
Die zentrale Frage ist, ob es al-Scharaa gelingen könnte, dieses Paradigma zu durchbrechen, und ob Syrien tatsächlich in eine neue Ära des Zusammenhalts eintreten kann. Seine Botschaft ist ein positives Signal, auch wenn ihre Umsetzung fraglich bleibt. Nach Berichten von Kontaktpersonen aus der Region hat es bislang keine nennenswerten Übergriffe auf Christen gegeben.
Es gab sogar ein Beispiel, das Hoffnung macht: In Aleppo wurde auf dem Vormarsch nach Damaskus ein Christbaum zerstört. Doch die Führung der Miliz ordnete an, diesen wieder aufzubauen oder Schadensersatz zu leisten. Abgesehen von diesem Vorfall scheint den Christen in Syrien bisher nichts Ernsthaftes zugestoßen zu sein.
"Die Frage ist, ob sich Syrien künftig in eine freiheitlichere, gleichberechtigtere Ordnung entwickelt"
Meinen Sie, das wird so bleiben?
Die Entwicklungen werfen große Fragen auf: Kann Scharaa das Land zusammenhalten? Wird er in der Lage sein, die Interessen der zahlreichen Milizen und Bevölkerungsgruppen zu balancieren? Bislang einte der Sturz des Assad-Regimes die verschiedenen Gruppen. Doch die eigentliche Herausforderung beginnt erst jetzt: der Aufbau einer nachhaltigen politischen Ordnung.
Ob sich Syrien von alten Paradigmen lösen kann – wie dem Schutzsystem dhimma, das Christen und Juden Rechte einräumte, sie aber gleichzeitig zu Bürgern zweiter Klasse machte – ist ungewiss. Die Frage ist, ob sich Syrien künftig in eine freiheitlichere, gleichberechtigtere Ordnung entwickelt.
Wie schätzen Sie die Lage anderer Minderheiten, etwa der Kurden ein?
Ein zentrales Problem für Minderheiten, nicht nur in Syrien, sondern in der gesamten Region, ist, dass sie in der Regel kaum eine Lobby haben. Minderheiten können oft ihre Interessen nicht wirksam vertreten, da sie weder die nötigen Strukturen noch genügend internationale Aufmerksamkeit haben. Das zeigt sich auch deutlich im Irak: Dort stoßen Minderheiten regelmäßig an ihre Grenzen, wenn es darum geht, ihre Rechte und Interessen durchzusetzen. Im Idealfall wäre ohnehin nicht mehr von Minderheiten die Rede, sondern von Bürgerinnen und Bürgern. So höre ich das auch immer öfter in Gesprächen mit Christen in der Region.
Für die Kurden dürfte die Situation noch schwieriger werden, sollte sich die USA tatsächlich vollständig aus der Region zurückziehen. Aktuell sind dort noch etwa 900 US-Soldaten stationiert, vor allem im Osten Syriens. Doch wenn die USA, wie der zukünftige Präsident Trump betont, sagen: "Das ist nicht unser Land, das ist nicht unser Krieg" und sich endgültig zurückziehen, könnte das verheerende Konsequenzen haben. Ein solcher Rückzug mag als Nichteinmischungspolitik begrüßt werden, stellt jedoch Minderheiten wie die Kurden vor massive Herausforderungen.
Unsere Arbeit als Landeskirche ist hier ebenfalls involviert, da wir mit Partnern im Irak immer wieder auch Projekte in diesen Regionen umsetzen. Unsere Partner im Irak arbeiten nicht nur mit christlichen Gemeinden im eigenen Land, sondern auch mit solchen in Nordsyrien.
"Es scheint, als habe der Rebellenführer in Syrien aus diesen Fehlern gelernt"
Stichwort Irak: Sehen Sie Parallelen zwischen dem Land und Syrien?
Natürlich gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Syrien und dem Irak. Beide Länder standen lange unter der Herrschaft repressiver Regime – Saddam Hussein und Assad. Beide Präsidialdiktaturen haben ihre Bevölkerung massiv unterdrückt, und obwohl sie einen ähnlichen Hintergrund hatten, waren sie keineswegs immer Verbündete. Ihr Umgang mit Minderheiten war aber vergleichbar, und vieles von dem, was über Syrien gesagt werden kann, trifft auch auf den Irak zu.
Nach der amerikanischen Invasion im Irak geriet die Situation jedoch außer Kontrolle, was auch strukturelle Gründe hatte. Die USA lösten staatliche Institutionen sowie die Armee auf, was unzählige Menschen arbeitslos machte und tragende Säulen des Staates zum Einsturz brachte. Dieser strategische Fehler trug maßgeblich dazu bei, dass der Irak in Chaos und Gewalt versank.
Es scheint, als habe der Rebellenführer in Syrien aus diesen Fehlern gelernt – oder zumindest bemüht er sich, einen anderen Weg zu gehen. Al-Scharaa erklärte, dass staatliche Institutionen erhalten bleiben müssen, und forderte Minister und Beamte auf, vorerst im Amt zu bleiben. "Wer kein Blut an den Händen hat, darf weiterarbeiten", so seine Worte. Das gibt Anlass zur Hoffnung, dass ein Machttransfer in Syrien friedlicher verlaufen könnte als im Irak. Doch das bleibt eine Hoffnung. Die divergierenden Interessen der zahlreichen Milizen und ethnischen Gruppen stellen eine enorme Herausforderung dar.
Könnte Syrien an diesen unterschiedlichen Interessen auch in mehrere Teile zerfallen?
Ob Syrien als Staat in seiner heutigen Form zusammengehalten werden kann, ist tatsächlich ungewiss. Schließlich ist auch Syrien, wie viele andere Länder der Region, ein Produkt kolonialer Machtpolitik. Die heutigen Grenzen des Nahen Ostens entstanden am Reißbrett in London und Paris durch das Sykes-Picot-Abkommen von 1916. Die willkürlichen Grenzziehungen, oft mit dem Lineal gezogen, zerschnitten Clans und zusammengehörige Gebiete, ohne Rücksicht auf die realen Gegebenheiten vor Ort.
Neben den internen Herausforderungen ist Syrien seit Jahrzehnten ein Schauplatz für Stellvertreterkonflikte, sogenannte proxy wars. Regionale und überregionale Mächte verfolgen ihre eigenen Interessen, was die inneren Spannungen weiter verschärft und dazu beiträgt, ethnische und religiöse Gruppen gegeneinander auszuspielen.
Wer verfolgt dabei welche Ziele?
Die Türkei sieht kurdische Autonomiebestrebungen als Bedrohung und versucht, solche Entwicklungen entlang ihrer Grenze zu verhindern. Israel hat mit der Besetzung der Golanhöhen Fakten geschaffen und verfolgt langfristige strategische Ziele, die auf eine dauerhafte Kontrolle dieser Region hindeuten. Der Iran nutzt Syrien als zentrales Bindeglied der sogenannten "Achse des Widerstands", um die Verbindung zur Hisbollah im Libanon sicherzustellen und seine Position gegenüber Israel und Saudi-Arabien zu stärken. Die USA unterstützen vor allem die Kurden im Nordosten Syriens, sowohl aus strategischem Interesse als auch zur Eindämmung iranischen Einflusses, während ihre Militärpräsenz zugleich eine abschreckende Wirkung auf andere Akteure wie Russland haben soll. Moskau wiederum nutzt seine Militärbasen am Mittelmeer, die einen langfristigen Einfluss in der Region garantieren sollen.
"Es gibt sicherlich Syrer, die sagen, sie möchten zurückkehren, das Land wieder aufbauen"
Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die aktuelle Debatte in Deutschland, ob Syrer*innen nun möglichst schnell wieder nach Syrien zurückkehren müssen?
Ich denke, es ist momentan nicht der richtige Zeitpunkt, um abschließend über eine Rückkehr nach Syrien zu entscheiden. Viele Menschen wollen abwarten, wie sich die Lage entwickelt. Es gibt sicherlich Syrer, die sagen, sie möchten zurückkehren, das Land wieder aufbauen und ihr Eigentum in Besitz nehmen – das ist großartig, wenn sie sich bewusst dafür entscheiden. Doch genauso gibt es Menschen, die sich unsicher fühlen und erst beobachten möchten, ob sie nicht vom Regen in die Traufe geraten. Viele sind vor dem Assad-Regime geflohen und wissen nicht, ob die aktuelle Situation wirklich eine Verbesserung darstellt. Auch in der Asyldebatte hierzulande scheinen die Stimmen in den letzten Tagen etwas zurückhaltender und besonnener geworden zu sein. Das halte ich persönlich für richtig.
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