Herr Gräbe, in weiten Teilen der Welt wird der Sturz Assads bejubelt. Ist das nach allem, was man infolge des sogenannten Arabischen Frühlings gesehen hat, wirklich ein Grund zur Freude?
Uwe Gräbe: Für viele Menschen, die seit 1970 unter der brutalen Assad-Diktatur leiden, ist es das ohne Zweifel. Man muss nur in die Gesichter der Menschen blicken, die jetzt teilweise nach Jahrzehnten der politischen Gefangenschaft aus dem berüchtigten Sednaya-Gefängnis befreit wurden. Das Gleiche gilt für diejenigen, die seit 2013 fliehen mussten und sich nach ihren Heimatorten oder Familienangehörigen sehnen. Unsere kirchlichen Partner sind nun natürlich etwas vorsichtiger, warten ab, beobachten die Situation.
"Die Alternative wäre ein Auseinanderbrechen des Landes"
Bislang weiß niemand genau, wie radikal die Islamisten sind, die das Land künftig regieren wollen. Was bedeutet die neue Situation für die Minderheiten im Land, etwa Christen und Kurden?
Nach den letzten Interviews mit dem Chef der islamistischen Miliz HTS, Ahmad Husain asch-Schar’a - bekannt unter dem Namen Abu Muhammad al-Jolani, habe ich in den vergangenen Tagen einige verhalten-positive Rückmeldungen von unseren kirchlichen Partnern gehört. Sollten diese islamistischen Rebellen sich tatsächlich mit anderen Oppositionskräften einigen können und die Macht mittelfristig an eine gewählte, zivile Regierung abgeben, dann besteht durchaus Grund zur Hoffnung. Die Alternative wäre ein Auseinanderbrechen des Landes.
Denn man darf nicht vergessen, dass die HTS jetzt zwar die energischste Kraft war, die den Sturz des Regimes letztlich bewerkstelligen konnte. Aber andere Oppositionstruppen wie die aus dem kurdisch beherrschten Osten Syriens oder auch die amerikanisch trainierten Kämpfer aus der Wüstenenklave von al-Tanf haben eine jeweils ganz andere Agenda. Ob man hier den einstigen Hoffnungsträger, die Freie Syrische Armee, überhaupt noch mitrechnen kann, die praktisch gänzlich von den pro-türkischen und anti-kurdischen Kräften aufgesogen wurde, da habe ich eher meine Zweifel.
Wie würden Sie die Reaktionen zusammenfassen?
Meine syrischen kirchlichen Gesprächspartner sagten mir überwiegend, dass man die versöhnlichen Worte al-Jolanis erst einmal ernst nehmen wolle. Lediglich einige wenige Pfarrer, die sich politisch - auch nach lokalen Maßstäben - allzu stark für das Assad-Regime exponiert haben, hat man aus Sicherheitsgründen erst einmal in den Libanon geholt. Ansonsten haben die Kirchengemeinden in Syrien am letzten Sonntag fast normal ihre Adventsgottesdienste gefeiert.
Bei alledem darf man natürlich nicht vergessen, dass die meisten christlichen Kirchen in den letzten Jahren den Schutz des Assad-Regimes gesucht haben. Als internationale Partner haben wir das in internen Gesprächen durchaus hin und wieder thematisiert und gefragt: Habt ihr denn keine Angst, was euch passieren wird, wenn dieses Regime einmal stürzt, an das ihr euch so bindet?
Warum war das so?
Dabei muss man bedenken, dass die Kirchen fast keine andere Möglichkeit hatten: Zum einen ist es diesem Regime hervorragend gelungen, die verschiedenen Minderheiten Syriens gegeneinander auszuspielen und sich dann anschließend als der einzige mögliche Beschützer ebendieser Minderheiten zu inszenieren. Und zum anderen ist es seit den Zeiten des Osmanischen Reiches zentrale Aufgabe der Oberhäupter der staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften ("Millets"), die absolute Loyalität ihrer jeweiligen Gemeinschaft gegenüber dem Sultan oder dem Diktator zu garantieren. Sonst würden sie gar nicht als Oberhaupt akkreditiert werden. Jetzt müssen dieselben Gemeinschaften versuchen, einen modus vivendi mit der neuen Herrschaft zu finden - egal, wie die am Ende aussehen wird. Das Ergebnis ist noch überhaupt nicht abzusehen.
"Viele Syrer sind mittlerweile so gut in Deutschland integriert, dass dies ihre Heimat ist, wo sie zur Schule gehen, arbeiten und Steuern zahlen"
Ende 2023 lebten laut Statistischem Bundesamt rund 712.000 syrische Schutzsuchende in Deutschland. Sollten nach dem Sturz Assads viele von ihnen in ihre Heimat zurückkehren?
Die Geschwindigkeit, mit der solche Forderungen in Deutschland nun gestellt werden, bevor überhaupt klar ist, wie sich die Situation in Syrien entwickelt, verwundert und erschreckt mich. Für viele Flüchtlinge ist das auch gar keine Frage des Sollens, denn im Gegenteil wollen viele ja selbst gerne zurück in ihre Heimat, sobald das möglich ist. Andere hingegen sind mittlerweile so gut in Deutschland integriert, dass dies ihre Heimat ist, wo sie zur Schule gehen, arbeiten und Steuern zahlen. Daher mein Vorschlag: Warten wir doch zumindest mal eine Anstandsfrist von zwei, drei Monaten ab, um eine Idee davon zu bekommen, wohin die Entwicklung in Syrien geht – und schauen dann, wer zurück nach Syrien kann, wer zurück will, und wer vielleicht auch einfach zurück soll, weil der Grund des Schutzes entfallen ist. Dadurch wird die Migrationskrise auch nicht größer oder kleiner.
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