Das "Unwort des Jahres 2024" lautet "biodeutsch". Der Ausdruck sei im vergangenen Jahr insbesondere in den sozialen Medien verstärkt verwendet worden, um Menschen vor dem Hintergrund vermeintlich biologischer Abstammungskriterien einzuteilen, zu bewerten und zu diskriminieren, sagt die Jurysprecherin der sprachkritischen Aktion, die Marburger Linguistikprofessorin Constanze Spieß.
Auf Platz zwei landete der Begriff "Heizungsverbot". Das persönliche Unwort der Jury-Gäste Saba-Nur Cheema und Meron Mendel war "importierter Antisemitismus".
Sprachregelungen haben Konjunktur in Zeiten, in denen die Verhältnisse unübersichtlich erscheinen. Hinter gegenwärtigen Sprachvorschriften steht oft die Vorstellung, Sprache konstruiere Wirklichkeit, das Bewusstsein also das Sein. Dass das Gegenteil der Fall ist, wusste schon Karl Marx.
Unterschiede lassen sich nicht durch Sprachregelungen aus der Welt definieren
Im immer vielfältiger werdenden Land der Kartoffeln und nicht zuletzt der Biokartoffeln ist das Unwort "biodeutsch", wenn es augenzwinkernd verwendet wird, an sich kein schlechtes Wort für die autochthonen Bewohner dieses Landes, die Menschen also, deren Vorfahren hier seit Generationen gelebt haben und zu denen uns sofort die einen oder anderen Merkmale einfallen.
Wir alle haben Vorstellungen davon, wie der "typische Italiener" aussieht oder die "typische Französin". Nichts davon ist wissenschaftlich, oft sind es vorurteilsbeladene Klischeebilder – und doch steckt eine gewisse Wahrheit in diesen Mustern. Wir müssen nur wissen, dass es daneben eine zweite, wichtigere Wahrheit gibt: die der individuellen Person.
Das Wort "biodeutsch" gehört zu den Versuchen, unsere diverser gewordene Gesellschaft irgendwie abzubilden. Auf deutschen Schulhöfen bemüht man dafür gern Vokabeln wie "Almans" oder "Kartoffeln". Alle diese Begriffe lassen sich kritisieren. Und alle diese Wörter haben eine Funktion: die Welt zu bewältigen. Unterschiede lassen sich eben nicht durch Sprachregelungen aus der Welt definieren, auch wenn viele sich das wünschten.
Die Tabuisierung von Wörtern verändert nicht die Phänomene, die sie beschreiben
Die Welt sieht nicht so aus, wie es das Grundgesetz vorgibt. Doch genau deswegen und für dieses Spannungsverhältnis gibt es das Grundgesetz: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (...) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden." (Art. 2/3) Deswegen ist dieser Satz des Grundgesetzes, der von "Rasse" spricht, eben nicht "rassistisch", sondern im Gegenteil zutiefst antirassistisch. Der Rassismus ist die diskriminierende Musterfunktion, die Verfassung besteht auf der Überwindung des Vorurteils.
Sprache konstruiert Bewusstsein, aber Sprachregelungen verändern nicht die Wirklichkeit. Die Tabuisierung von Wörtern verändert nicht die Phänomene, die sie beschreiben. Über Sprache zu sprechen bringt uns trotzdem weiter. "Unwort"-Verwender sind meist keine Unmenschen. Streiten wir weiter kräftig über die Sprache. Aber hüten wir uns vor dem unmenschlichen Versuch, Sprache "regeln" zu wollen, sie zu verbieten und oder anderen vorzuschreiben.
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