Friedhöfe werden stiller. Grabsteine verschwinden, Urnenwände wachsen. Immer häufiger liest man in Todesanzeigen: "Die Beisetzung fand im engsten Familienkreis statt."

Was so bescheiden klingt, ist oft Ausdruck einer Gesellschaft, die das Erinnern verlernt. Wir wollen, dass der Tod keine Umstände macht. Kein Aufwand, kein Grab, kein Besuchszwang. Nur noch: "Macht’s einfach unkompliziert."

Doch wer es zu einfach macht, verliert dabei etwas – nämlich das, was uns verbindet. Der Tod ist kein logistisches Problem, das man schnell abwickeln kann.

Rituale sind kein Ballast, sondern Geländer

Früher, wenn jemand gestorben war, kam das Dorf zusammen. Man ging zum Leichenschmaus – nicht aus Pietät, sondern aus Nähe. Da wurde gegessen, geschwiegen, geweint, erzählt. In der Küche standen die, die anpackten, im Wohnzimmer saßen die, die trösteten. Der Leichenschmaus war kein makabres Überbleibsel, sondern ein Ritual, das half, den Schmerz in Gemeinschaft zu verwandeln. 

Heute bleibt nach der Trauerfeier oft nur eine WhatsApp-Nachricht: "Schön, dass du da warst."

Natürlich verändern sich Formen. Niemand will zurück in eine Zeit, in der alles vorgeschrieben war – von der Blumensorte bis zur Sitzordnung in der Trauerhalle. Aber Rituale sind kein Ballast, sie sind ein Geländer. Sie geben Halt, wenn alles wankt.

Ich habe in Weißenstadt eine Familie kennengelernt, die sich zu Hause von der Mutter verabschiedet hat. Kein Bestattungsinstitut im Vordergrund, keine sterile Halle, sondern das eigene Wohnzimmer. Sie haben miteinander gebetet, das letzte Abendmahl gefeiert, eine Kerze angezündet.

Und als der Moment des Abschieds kam, haben sie das Fenster geöffnet – damit die Seele hinaus kann. So, sagten sie, "war es immer – und so soll es sein".

Allerseelen war früher so ein Tag der Erinnerung, so ein Geländer: Man ging ans Grab, zündete eine Kerze an, nahm sich Zeit für die, die nicht mehr da sind. Heute posten wir Schwarz-Weiß-Fotos mit dem Hashtag #inmemory, und der Algorithmus sorgt dafür, dass sie nach 24 Stunden wieder verschwinden. Ich nehme mich da nicht aus. Ich bin nicht besser, aber je älter ich werde, desto mehr denke ich, so kann ich nicht weitermachen.

Was uns fehlt, ist nicht Technik, sondern Tiefe

Das Erinnern ist digital geworden – und damit auch flüchtiger. Es gibt virtuelle Gedenkseiten, KI-generierte Stimmen, die mit uns sprechen wie die Verstorbenen. Doch das alles ersetzt keine Hand, die eine andere hält.

Was uns fehlt, ist nicht Technik, sondern Tiefe. Es geht nicht darum, ob man traditionell oder modern trauert – sondern ob man überhaupt noch trauert. Ob wir uns noch die Zeit nehmen, innezuhalten, zu fühlen, zu erzählen.

Denn Erinnerung ist keine Privatangelegenheit. Sie ist ein soziales Gedächtnis. Wenn niemand mehr erzählt, was war, dann verliert auch die Gegenwart ihren Halt.

Vielleicht ist es das, was man an einem Ort wie dem Leichenschmaus spüren konnte: Dass selbst der Tod nicht das letzte Wort hat, solange Menschen miteinander reden, essen, lachen, sich erinnern.

Und so stehen wir vor einer Frage, was passiert, wenn das Erinnern verschwindet? Wenn niemand mehr anruft, niemand mehr eine Kerze anzündet, niemand mehr sagt: "Weißt du noch?"

Wer sich erinnert, trauert nicht allein

Vielleicht brauchen wir gar keine neuen Rituale. Vielleicht genügt es, die alten wieder zu verstehen. Eine Kerze am Grab. Ein Gebet, auch wenn man zweifelt. Ein gemeinsames Essen nach der Beerdigung, bei dem man weint und lacht zugleich. Oder – wie in Weißenstadt – ein Fenster, das sich öffnet, damit die Seele hinaus kann.

Denn wer sich erinnert, bleibt verbunden. Und wer verbunden bleibt, trauert nicht allein. Am Ende geht es nicht darum, wie aufwendig wir Abschied nehmen. Sondern ob wir es überhaupt noch tun.

Wenn keiner mehr bleibt, der sich erinnert – bleibt dann noch etwas von uns?