Eltern, die mit ihrem Latein am Ende sind, weil das Kind einfach nicht zu bändigen ist, geraten in die Gefahr, zuzuschlagen, ruppig oder fies zu werden. Das passiert in Bayern häufig: Rund 1.450 Mal wurden Kinder 2019 in Schutz genommen, weil ihre Eltern mit ihnen völlig überfordert waren.

Experten befürchten, dass die Zahlen durch die Corona-Pandemie weiter nach oben schnellen könnten. Was den Ruf nach mehr Kinderschutz laut werden lässt.

Forderung nach mehr Kinderschutz in Bayern

Politiker aller Parteien in Bayern wollen Kindeswohlgefährdungen den Kampf ansagen. Der CSU-Fraktion geht es unter anderem darum, Kindern einen leichten Zugang zu Hilfsangeboten zu ermöglichen. Etwa via SMS oder Chat.

Die FDP regt an, Anlaufstellen des Präventionsnetzwerks "Kein Täter werden" in allen Regierungsbezirken aufzubauen. Die SPD fordert die Stelle eines Missbrauchsbeauftragten. Die Grünen setzen sich für eine gute Ausstattung der Jugendämter ein. Gefordert werden außerdem Initiativen zur Stärkung der Erziehungskompetenz.

Kinder- und Jugendpsychiatrie in Würzburg

So gut wie alle Eltern wünschen sich ein harmonisches Miteinander in der Familie. Doch dieser Wunsch geht manchhmal nicht in Erfüllung. Warum, das erlebt Marcel Romanos, Direktor der Würzburger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, fast täglich.

In seiner Klinik werden um die 2.500 Kinder und Jugendliche pro Jahr behandelt. Darunter "viele potenzielle Kinderschutzfälle" mit verschiedenen Schweregraden. Die Kinder wurden vernachlässigt oder geschlagen. Gut einmal im Jahr hat es Romanos mit einem drastischen Fall zu tun: "Unlängst hatten wir ein Kind, das Male ausgedrückter Zigaretten auf der Haut hatte."

Väter und Mütter schlagen zu, weil sie von Jähzorn übermannt werden. Sie missbrauchen ihre Kinder, weil sie mit ihrer Sexualität nicht klarkommen. Die offiziellen Zahlen drücken Romanos zufolge nur einen Bruchteil dessen aus, was Kindern erleiden müssen:

"Die Dunkelziffer ist hoch."

Schätzungen zufolge kommt bei sexuellem Missbrauch wahrscheinlich nicht einmal jeder 15. Fall ans Tageslicht. Gerade körperliche Misshandlungen müssten eigentlich in Arztpraxen auffallen: "Doch von dort kommen nur wenige Meldungen." Womöglich deshalb, weil Ärzte unsicher sind, was sie wem melden dürfen.

Vernetzung aller Einrichtungen gefordert

Beim Kinderschutz hat Deutschland einen großen Nachholbedarf, sagt Christina Kohlhauser-Vollmuth, Chefärztin der Missio Kinderklinik in Würzburg. Ihr zufolge muss bei den Jugendämtern angesetzt werden. In manchen Regionen gebe es "große Defizite" bei der personellen Ausstattung und der fachlichen Ausbildung.

Bei berechtigtem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung müsse Kinderschutz vor Schweigepflicht und Datenschutz gehen, fordert sie weiter. Sinnvoll wäre schließlich eine Vernetzung aller Einrichtungen: "Um Aussagen wie: 'Dafür bin ich nicht zuständig!' zu vermeiden."

Kinderschutzleitlinie entwickelt

In den vergangenen Jahren haben sich Experten vieler Fachrichtungen intensiv mit dem Thema "Kinderschutz" befasst. Vertreter von Medizin, Jugendhilfe und Pädagogik haben eine rund 360 Seiten umfassende "Kinderschutzleitlinie" entwickelt. "Deren pure Seitenzahl zeigt, wie komplex das Thema ist", sagt Kohlhauser-Vollmuth.

Detailliert gehe es um Fragen der Diagnostik, um Verhaltensauffälligkeiten, um psychisch belastete Eltern sowie um Geschwisterkinder.

Das Thema "Kindesmisshandlung" wird immer dann an die Öffentlichkeit gebracht, wenn mal wieder ein "spektakuläre Fall" publik wird. Doch weil so viele Kinder betroffen sind, müsste kontinuierlich aufgeklärt und sensibilisiert werden, sagt Kohlhauser-Vollmuth. Menschen müssten ermutigt werden, genau hinzuschauen und Verdachtsfälle zu melden.

Kindesmisshandlungen melden

Laut dem Bayerischen Landesamt für Statistik geschah dies 2019 mehr als 19.500 Mal. In 14 Prozent aller Fälle war das Kindeswohl tatsächlich akut gefährdet.

Insgesamt waren weit mehr als die Hälfte der Meldungen berechtigt. So lagen in 15 Prozent der Fälle Anzeichen für eine latente Kindeswohlgefährdung vor. In mehr als jedem dritten Fall wurde ein konkreter Hilfebedarf ermittelt. Den Eltern wurde zum Beispiel Erziehungsberatung nahegelegt.

Die Meldungen kamen in erster Linie von der Polizei, von Gerichten oder der Staatsanwaltschaft. Aber auch Bekannte oder Nachbarn riefen das Jugendamt an. Mehr als 2.100 Mal meldete jemand anonym den Verdacht, dass es einem Kind in seiner Familie nicht gutgeht.

Präventionsprojekte

Im Jahr 2005 haben Mediziner in Berlin das "Präventionsprojekt Dunkelfeld" gegründet, aus dem wenige Jahre später das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden" hervorging.

"Das müsste es auch in Bayern viel mehr geben", meint Kirstin Dawin vom Münchner Kinderschutzzentrum.

Im Süden Deutschlands existieren nur zwei Stellen in Bamberg und Ulm. Die Regensburger Einrichtung, die 2010 an den Start ging, wurde letztes Jahr geschlossen. "Wer therapiert werden möchte, muss sehr weit fahren", sagt Dawin.

Die wenigsten Eltern wollen ihren Kindern körperliche oder seelische Qualen zufügen, sagt Dawin: "Fast alle haben den großen Wunsch, gute Eltern zu sein." Doch das können sie nicht aus eigener Kraft. Dafür brauchen sie Hilfe. Die ist vor allem in den ländlichen Regionen Bayerns Mangelware.

Wenn die Politik tatsächlich etwas dagegen tun will, dass so viele Kinder geschlagen, missbraucht oder vernachlässigt werden, soll sie mehr Kinderschutzzentren errichten, meint Dawin: "Und zwar gerade auf dem Land." Derzeit gibt es in Bayern nur zwei solcher Zentren in Kulmbach und in München. In Baden-Württemberg sind es fünf.