Albert Schweitzer forschte über Jesus von Nazareth, von dem man aber streng historisch genommen nicht viel Hieb- und Stichfestes weiß. Schweitzers theologischer Grundgedanke ist das "Reich Gottes". Seine ethische Schlüsselidee ist die "Ehrfurcht vor dem Leben".

Gott ist das Fundament

Weniger bekannt ist: Gott ist Fundament und Zielpunkt von Schweitzers philosophischem und religiösem Denken. So ist die "Ehrfurcht vor dem Leben" nach Schweitzer verankert in der "Ehrfurcht vor dem unbegreiflich Unendlichen und Lebendigen, das wir Gott nennen". So formulierte er in einer Predigt im Februar 1919. Zu einem zeitgemäßen Gottesverständnis hat er Wegweisendes beizutragen.

Helene Bresslau, seiner künftigen Frau, vertraut Schweitzer in einem Brief vom Oktober 1906 seine damaligen Gedanken über Gott an, in reichlich philosophischer und mystischer Ausdrucksweise:

"Was ist denn Gott? Etwas Unendliches, in dem wir ruhen! Aber es ist keine Persönlichkeit, sondern es wird Persönlichkeit erst in uns. Der Weltgeist, der in dem Menschen zum Bewusstsein seiner selbst kommt. Beten: das Wehen des höchsten Wesens in uns fühlen, uns selber an das Göttliche in uns hingeben und so Frieden finden."

Viel einfacher klingt es 50 Jahre später in einem "Brief an einen Knaben". Hier setzt sich Schweitzer mit dem Vorwurf auseinander, er habe "nicht den rechten Glauben an die Dreieinigkeit". Er legt in schlichter Sprache ein Bekenntnis ab: "Ich glaube an Gott, der unser Vater ist, an den Herrn Jesus, der unser Erlöser ist, an den Heiligen Geist, der in unserm Herzen herrschen soll." Dabei ist die Dreieinigkeit ein das menschliche Verstehen sprengendes "Geheimnis":

"Ich weiß nicht, ob die Lehre, die im Christentum verbreitet ist, wie diese Drei eine Einheit bilden, das große Geheimnis ihrer Zusammengehörigkeit richtig ausdrückt. Ich frage mich überhaupt, ob wir Menschen dieses Geheimnis verstehen können."

Wahrheit kann ihm zufolge nur eine einzige sein

In seinem Nachdenken über Gott geht Schweitzer von der Wirklichkeit aus, wie sie in einem aufs Wesentliche gerichteten "elementaren Denken" erfahren wird. Da stößt man durch unvoreingenommenes Nachdenken über die Grundfragen unseres Daseins auf den göttlichen Daseinsgrund. Dieser bleibt ein Geheimnis. Ferner denkt Schweitzer über Gott nicht nur vom christlichen Glauben aus nach, sondern auch philosophisch, und in diesem Fall ohne Glaubensvorgaben. Das ist für ihn kein Gegensatz, da die Wahrheit, die in der Bibel bezeugt wird und auf die auch die Philosophie zielt, nur eine einzige sein kann.

Bevor über das wahre Wesen und Wirken Gottes Spezifisches gesagt wird, ist erst einmal die göttliche Dimension als solche zu bedenken. Wenn wir "Gott" sagen, meinen wir "das Unendliche", den "unendlichen Willen zum Leben", "das universelle Sein", den "universellen Willen zum Leben", den "Urgrund des Seins", den "unendlichen Geist". Bei derartigen von Schweitzer gebrauchten philosophischen Begriffen ist noch nicht entschieden, wie wir mit Gott dran sind, ja auch noch nicht einmal, ob er eher unpersönlich oder aber überpersönlich vorzustellen ist. Die göttliche Dimension ist also offen (a) für einen Pantheismus, wo Gott und die Welt in eins gesehen werden, wie (b) für einen Deismus, nach dem der Schöpfergott die Welt sich selbst überlässt, oder (c) für einen Polytheismus, der verschiedene sich ergänzende oder sogar einander bekämpfende Gottheiten vermutet, und sogar (d) für einen Atheismus, für den der wahre Charakter des Urgrunds in bloßer Materie oder kosmischer Energie besteht.

Gott finde ich nicht durch zwingendes Denken

In seiner nachgelassenen "Kulturphilosophie III" betont Schweitzer 1932, diese göttliche Dimension sei gedanklich so zwingend wie die Tatsache unseres eigenen Daseins und der uns umgebenden Welt. Aber Gott als persönlich-überpersönliche Kraft, zu der ich in eine innere Beziehung trete, finde ich nicht durch zwingendes Denken, sondern im Lebensvollzug, in der Ethik.

"Verstehe ich unter Gott den Urgrund des Seins, so habe ich sein Dasein weder zu erweisen noch zu bezweifeln, sondern einfach festzustellen, dass er ist (er ist als seiend erwiesen, mit dem Sein gegeben)... Die ganze Verirrung kommt daher, dass man unsachlich redet und den undefinierten Ausdruck ›Gott‹ gebraucht statt des sachlichen 'Urgrund des Seins'. Die Existenz des Urgrundes und des Inbegriffs des Seins zu bezweifeln oder zu erweisen ist gleich töricht. Die Frage ist nicht, inwiefern Gott existiert oder nicht existiert, sondern inwiefern der Urgrund und Inbegriff des Seins für mich etwas ist, zu dem ich ein geistiges Verhältnis habe...

In dem Augenblick, wo ich zu ihm in ein geistiges Verhältnis trete und mich ihm hingebe, wird aus dem Urgrund und Inbegriff des Seins für mich Gott, das heißt ich verhalte mich zu ihm als geistiges Wesen zu einem geistigen Wesen."

Wenn Schweitzer auf Gott zu sprechen kommt, kreist er meistens um einen Grundgedanken: Gott begegnet uns auf zweifache Weise. Ähnlich hat Martin Luther eine "verborgene" und eine "offenbare" Seite Gottes unterschieden. In Natur, Geschichte und persönlichem Leben sind Gott und sein Wirken rätselhaft: "Wir wagen uns einzugestehen, dass uns in der Natur und in uns selbst so viel entgegentritt, das wir als böse empfinden... Das Rätsel der Religion ist, dass wir Gott in uns anders erleben, als er uns in der Natur entgegentritt. In der Natur erfassen wir ihn nur als unpersönliche Schöpferkraft, in uns aber als ethische Persönlichkeit", schreibt Schweitzer 1923. Der göttliche Urgrund muss zwar geistiger Art sein, da sich ihm auch alles Geistige verdankt. Deshalb ist er irgendwie an allem Geschehen beteiligt – aber wir wissen nicht wie.

Gefaltete Hände über einer Bibel

Religion erklärt nicht alles

Von der göttlichen Macht der Liebe ist im Weltgeschehen nur wenig zu spüren. Oft stößt man auf Bosheit, Grausamkeit, rücksichtslosen Kampf ums Dasein, Eigensucht, Katastrophen, unendliches Leid. Wir wissen nicht, wieso das so ist. Gott lässt sich nicht in die Karten schauen. Schweitzer erzählt, ehemalige Konfirmanden von ihm habe er durch seine Auskunft, "dass Religion nicht etwas sei, das alles erkläre", im Schützengraben des Ersten Weltkriegs davor bewahren können, "das Christentum von sich zu werfen".

Andererseits geht die Verborgenheit Gottes nicht so weit, dass wir nicht doch erfahren könnten, was wir von ihm zu erwarten haben und was er von uns fordert. Denn Gott offenbart sich in unserem Innern. "Nicht nur auf die historische, sondern zugleich auf die ihr entsprechende und sie fortwährend bestätigende innerliche Offenbarung muss sich das Christentum berufen." Dass Gottes Liebeswille sich besonders eindrücklich in der "historischen Offenbarung" in Jesus von Nazareth kundgibt, ist bei Schweitzer vorausgesetzt, wird aber in seinen grundlegenden Erwägungen kaum einmal erwähnt, da sein Augenmerk auf das Echo der Christusoffenbarung in unserem Innern gerichtet ist.

Gott als "Willen der Liebe"

Wir erleben Gott als den "Willen der Liebe", und das gibt uns dann die Kraft, uns im Sinn der Liebe oder der "Ehrfurcht vor dem Leben" darum zu mühen, Leben zu fördern und zu schützen und damit dem Geist Jesu und dem Reich Gottes zu dienen:

"In Welt- und Lebensbejahung und in Ethik erfülle ich den Willen des universellen Willens zum Leben, der sich in mir offenbart. Ich lebe mein Leben in Gott, in der geheimnisvollen ethischen Gottespersönlichkeit, die ich so in der Welt nicht erkenne, sondern nur als geheimnisvollen Willen in mir erlebe."

Schweitzers berühmtes Gleichnis vom Golfstrom beschreibt die zweifache Begegnung mit Gott in bildhafter Weise: "Es gibt einen Ozean. Kaltes Wasser, unbewegt. In dem Ozean aber fließt der Golfstrom, heißes Wasser, das vom Äquator zum Pole fließt. Fragen Sie alle Gelehrten, wie es physikalisch vorstellbar ist, dass zwischen den Wassern des Ozeans, wie zwischen zwei Ufern, ein Strom heißen Wassers fließt, bewegt in dem Unbewegten, heiß in dem Kalten. Sie können es nicht erklären. So ist der Gott der Liebe in dem Gott der Weltkräfte eins mit ihm und doch so ganz anders als er. Von diesem Strome lassen wir uns ergreifen und dahintragen."

Geborgenheit in Gott über den Tod hinaus

Kann man angesichts der Übel in der Welt überhaupt noch die Botschaft von Gottes Güte nachvollziehen? Die unlösbaren Rätsel müssen uns nicht in religiöse Gleichgültigkeit oder in Verzweiflung treiben. Der springende Punkt bleibt: Gott offenbart sich als "Wille der Liebe":

"Wer erkannt hat, dass die Idee der Liebe der geistige Lichtstrahl ist, der aus der Unendlichkeit zu uns gelangt, der hört auf, von der Religion zu verlangen, dass sie ihm ein vollständiges Wissen von dem Übersinnlichen biete. Wohl bewegt er die großen Fragen in sich, wie in Gott der Schöpferwille und der Liebeswille eins sind, in welchem Verhältnis das geistige und das materielle Leben zueinander stehen und in welcher Art unser Dasein vergänglich und dennoch unvergänglich sei. Aber er vermag es, sie dahingestellt sein zu lassen, so schmerzlich ihm der Verzicht auf die Lösung ist. In dem Wissen vom geistigen Sein in Gott durch die Liebe besitzt er das Eine, was nottut."

Eine Probe für den Glauben an Gott ist die Frage, was wir nach dem Tod zu erwarten haben. Schweitzer glaubt an ein Geborgensein in Gott über den Tod hinaus:

"Auch für den neuzeitlichen Glauben bedeutet das Werden des Reiches Gottes auf Erden nicht alles. Auch er schaut von dieser Welt und von der Zeitlichkeit auf die Ewigkeit aus und auf das, was nach dem Tode sein wird. Er weiß aber, dass wir dies Gott anheimgestellt lassen müssen und dass wir in diesem Dasein nach der Seligkeit trachten müssen, dass es in uns und in der Welt Reich Gottes werde, aus der uns Gott, wenn wir uns in ihr bewährt haben, zur zukünftigen eingehen lässt."

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