Ein Algorithmus entscheidet über Impftermine, über Autobahnen rollen selbstfahrende Autos, und es fließen Milliarden Euro in die Forschung an Künstlicher Intelligenz (KI): Die Digitalisierung der Gesellschaft schreitet voran, Lebenswelten verändern sich, die Menschen suchen nach Orientierung für ihr Handeln. Der Theologe Thomas Zeilinger ist "Beauftragter für Ethik im Dialog mit Technologie und Naturwissenschaft" der bayerischen Landeskirche und Professor am Lehrstuhl für Christliche Publizistik der Universität Erlangen. Im Podcast "Ethik Digital" spricht er über Ethik als komplexe gesellschaftliche Aufgabe.

Herr Zeilinger, Ihr voller Titel ist "Beauftragter für Ethik im Dialog mit Technologie und Naturwissenschaft". Was ist Ihr Job?

Thomas Zeilinger: Ich nehme eine orientierende und eine koordinierende Funktion wahr. Die evangelische Kirche in Bayern hat 2015 ein "Netzwerk Ethik" gegründet, zusammen mit den Lehrstühlen für evangelische Ethik an den bayerischen Hochschulen. 2018 haben wir etwa ein Online-Ethik-Lexikon an den Start gebracht, das Stichworte der ethischen Debatte aufbereitet. Mein Job ist, die technologischen Entwicklungen zu verfolgen und die sich daraus ergebenden Fragen zu formulieren.

Es gibt immer mehr Ethikräte, Ethikkommissionen und Ethikbeauftragte. Ethik hat Konjunktur - dabei wissen viele Menschen gar nicht genau, was sie macht.

Zeilinger: Die Ethik fragt nach dem richtigen Handeln. Das griechische Wort "ethos" meint die Gewohnheiten, in denen ich mich einrichte, also auch die Frage nach unserer Identität. Zeig mir deine Wohnung und ich sage dir, wer du bist, heißt es im Sprichwort. Die digitale Ethik fragt auch: Wer wollen wir als als Gesellschaft sein? Und was heißt das für Themen wie das autonome Fahren? Das klingt nach dem faszinierenden Vorteil, sich ins Auto setzen und abschalten zu können. Aber dieses Ziel muss klar mit dem ethischen Prinzip der Nichtschädigung verbunden sein. Betrachtet man dieses im globalen Kontext, merkt man schnell, mit wie vielen einzelnen Entscheidungen es verbunden ist. Ethik ist in der modernen Gesellschaft eine komplexe Aufgabe. Fragen sind nicht immer mit Ja oder Nein, sondern oft mit einer ausgefeilten Abwägung zu beantworten.

 

Thomas Zeilinger ist Ethikbeauftragter der bayerischen evangelischen Landeskirche. Im Podcast "Ethik Digital" spricht er mit Rieke Harmsen und Christine Ulrich über den neuen Podcast - und erläutert, warum wir mehr über digitale Ethik sprechen sollten.

Podcast Ethik Digital

Im Podcast "Ethik Digital" sprechen Rieke C. Harmsen und Christine Ulrich mit Expert*innen aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft über digitale Ethik. Wir laden ein, darüber nachzudenken, in was für einer digitalen Welt wir leben möchten. Wir ergründen ethische Positionen und diskutieren über unsere Vorstellungen und Werte. Der Podcast "Ethik Digital" vermittelt Wissen, gibt Orientierung und sucht nach Antworten büer die Frage, was für Menschen wir sein wollen.

Alle Folgen des Podcasts "Ethik Digital" anhören. Der Podcast erscheint immer am letzten Montag des Monats.

Thomas Zeilinger über Digitale Ethik

Was kann digitale Ethik leisten, welche Lebensbereiche verändert die Digitalisierung?

Zeilinger: Die richtigen Fragen zu stellen ist schon die halbe Miete bei der Ethik: die Dinge mal gegen den Strich zu bürsten, Selbstverständlichkeiten infrage zu stellen, gepaart mit Neugier. Transformation, KI und Big Data: Von diesen Stichworten ausgehend schaut die Ethik, was sie an Dynamik für soziales Zusammenleben bedeuten. Themenfelder sind etwa das Arbeitsleben, die Medien, die Bildung und Erziehung, autonome oder zautomatisierte Systeme, der militärische Gebrauch von tödlichen autonomen Waffen, der Umgang mit medizinischen Daten. Beim Thema Politik geht es etwa um Videoüberwachung, das Verhältnis von innerer Sicherheit und bürgerlichen Freiheiten, wie auch um spannende Technologien wie auch um spannende Technologien wie Smart Grids (Stromnetze), intelligente Stadtplanung und effiziente Energieversorgung gerade unter Bedingungen des Klimawandels. Da vermute ich, neben allen Missbrauchsgefahren, große positive Möglichkeiten.

Wie kommt ein Theologe zur digitalen Ethik?

Zeilinger: Ich komme ja von der Christlichen Publizistik. Medien waren für den christlichen Glauben und die Frage, wie wir handeln sollen, immer schon zentral. Das Christentum und andere Religionen verdanken der Schrift ihre urkundlichen Dokumente. Man denke an den Buchdruck zur Zeit Luthers und von dort aus an die Möglichkeiten digitaler Kommunikation, die für mich ein Faszinosum darstellt.

Inwiefern ist digitale Kommunikation anders?

Zeilinger: Charakteristisch ist die Übersetzbarkeit von allem in alles. Durch die binäre Codierung von Nullen und Einsen oder Strom an, Strom aus können verschiedenste Zeichen ineinander übersetzt werden - gepaart mit dem Thema Miniaturisierung von Technik, also der Winzigkeit von Speicherchips: Was früher auf tonnenschweren Servern gespeichert war, passt heute in die Hosentasche. Und diese Übersetzbarkeit ist global. Die Herausforderung ist, in der Informationsflut nicht unterzugehen, sondern den eigenen Weg zu finden.

Im kirchlichen Bereich ist Seelsorge ist eine der grundlegenden Kommunikationsarten. Kann sie digital stattfinden? Wie können Theologen, Seelsorger und Pfarrerinnen damit umgehen?

Zeilinger: Das Thema Seelsorge führt zu einem Stichwort, das auch bei den Diskussionen um KI auf europäischer Ebene eine große Rolle spielt: Erst kürzlich nannte die EU-Digitalkommissarin, Margrethe Vestager, das Thema Vertrauen. Vertrauen ist die wesentliche Kategorie für Beziehung und Kommunikation gerade in einer seelsorglichen Dimension. Da sind wir als Kirche herausgefordert - es gilt, umsichtig zu schauen, welche Standards gegeben sein müssen auf digitalen Kanälen, um dieses Vertrauen nicht zu gefährden.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat vor kurzem eine Denkschrift zum digitalen Wandel vorgelegt: "Freiheit digital". Wie kann und soll sich Kirche bei digitaler Ethik einmischen?

Zeilinger: Ein Thema ist Medienbildung, das Stichwort Medienkompetenz als Forderung. Kirche hat eine Chance und eine Aufgabe, mit dafür zu sorgen, dass etwa auch qualitätsvoller Journalismus seine Stimme behaupten kann und nicht im Geblubbere von tausendundeinem Blog einfach untergeht.

Auch beim Thema KI ist Kirche gefordert, etwa bei der Frage, wie Freiheit von Religion europaweit im Zusammenhang von KI-Automatismen bewahrt bleibt - oder wenn es beim Thema Videoüberwachung um den Wert Privatheit geht.

Leben wir Menschen noch selbstbestimmt, oder herrschen bald die Maschinen? Inwieweit geht es bei der Digitalisierung um die menschliche Autonomie als Wert?

Zeilinger: Das Stichwort Autonomie ist ein weites Feld. Ich würde es fokussieren auf zwei Begriffe: Verantwortung und Freiheit. So gibt es etwa Herausforderungen im Hinblick auf einprogrammierte Vorurteile, und das kann rückgekoppelt werden an menschliche Verantwortung. Eine Datenbasis wird oft von weißen, privilegierten Männern zusammengestellt, einfach weil sie die Mehrheit unter den Programmierern sind - und so fließen unwillkürlich Vorurteile mit ein. Dabei finde ich Transparenz wichtig, damit nachvollziehbar ist, wie eine algorithmische Entscheidung zustande kommt. Dieser "bias", diese Verzerrung, sollte transparent gemacht werden.

Haben Sie diese Herausforderungen auch bei ihrer Studie zum Thema Roboterjournalismus aufgespürt?

Zeilinger: Roboterjournalismus meint die automatisierte Kommunikation etwa bei Wirtschafts- und Börsennachrichten oder der Sportberichterstattung mit Live-Tickern, wenn automatisierte Skripte den Spielbericht oder den Börsenticker erstellen. Wir haben eine Umfrage unter journalistischen Profis gemacht unter anderem dazu, ob solche Berichte gekennzeichnet sein sollen, inwieweit ich als Leser erkennen können muss: Das ist ein mithilfe automatisierter Skripte erstellter Text. Hier finde ich ebenfalls Transparenz wichtig in dem Sinne, dass nachvollziehbar ist, wer dahintersteckt und wie es zustande kommt.

Kann nicht das Recht solche Probleme regeln? Warum braucht es immer mehr ethische Orientierung?

Zeilinger: Das Recht gilt auch als die geronnene Ethik, wo die Normen festgelegt sind. Wir haben so viele so schnelle Entwicklungen, dass die Rechtsetzung sich schwer tut, reaktiv hinterherzugehen. Darum braucht es auch eine proaktive Haltung und ein wachsames Bewusstsein. Nötig ist eine explorative Ethik, die das digitale Feld erstmal erkundet. Da wissen wir noch nicht, was zu tun ist, sondern müssen vorsichtig ausprobieren und herausfinden, welche Kriterien wir anlegen wollen. Ohne dieses Erkunden und Vermessen wird es keine Kulturentwicklung geben.

Sehen Sie den digitalen Wandel als Disruption? Oder ist es eher eine sanfte Transformation, die uns einiges abverlangt, aber keine Brüche erzeugt?

Zeilinger: Der Dialektiker sagt: Es hat von beidem etwas. Wolfgang Riepl formulierte 1913 als Chefredakteur der "Nürnberger Zeitung": Kein Instrument der Informationsübertragung in der Geschichte ist durch die technische Entwicklung, die dann gefolgt ist, einfach abgelöst worden und über Bord gegangen. Realistisch betrachtet passiert Transformation einfach. Der Journalismus ist jetzt nicht mehr so wie vor 20 Jahren und wird in 20 Jahren nochmal anders aussehen. Aber gute journalistische Leistung wird weiter eine professionelle Qualität haben, die nicht abgelöst wird davon, dass der Beruf verschwindet und wir alle uns nur noch als Amateure in dem Feld bewegen.

Sind Sie eher technikeuphorisch oder kulturpessimistisch? Sehen Sie im digitalen Wandel mehr Chancen oder Risiken?

Zeilinger: Ich habe zu Beginn dieses Jahrhunderts sehr positiv auf die Möglichkeiten geschaut. Inzwischen gibt es genügend Gründe, auch dystopische Perspektiven zu benennen und sich nicht vorzumachen, dass das alles einfach ist. Wir haben eine echte ethische Anstrengung, die Dinge so zu gestalten, dass nicht demokratische Errungenschaften zugunsten technischer Optimierbarkeit einfach hinten runterfallen. Das erleben wir gerade in den Diskussionen - Stichwort USA, China, Europa.

Im Unternehmerischen spricht man vom "digitalen Reifegrad" eines Unternehmens. Welchen "Reifegrad" in digitaler Ethik würden Sie unserer Gesellschaft zumessen?

Zeilinger: In den letzten zehn Jahren hat sich schon viel getan. Aus dem Winterschlaf sind wir erwacht. Von Sommer und Heranreifen kann man noch nicht reden. Aber die Knospen sind da im Sinne der Fragen, die die Ethik zu stellen beginnt. Die Fragen brechen auf, die Möglichkeiten werden sichtbar. Von daher halte ich den Frühling für den aktuellen Reifegrad.

Ist der Bedarf an digitaler Ethik auch eine Generationenfrage? Denken Sie, dass die Jüngeren keine großen digitalethischen Fragen mehr haben werden?

Zeilinger: Bestimmte Grundfragen werden sich weiter stellen. Der Zugang zu Ressourcen etwa: Das sind keine Themen, zumal in globaler Perspektive, die sich von einer Generation zu anderen erledigt haben. Aber sie werden womöglich in einem anderen Reifezustand diskutiert werden. Das ist meine Hoffnung.

Viele Digitalfirmen sagen: Wir tun alles, was technisch möglich ist, wenn unsere Kunden das wollen. Zudem diktieren die großen Internetplattformen häufig die technischen Möglichkeiten. Wäre es angebracht, in jeder Firma regelhaft einen Beauftragten für digitale Ethik anzusiedeln, so wie beim Thema Nachhaltigkeit?

Zeilinger: Im Medienbereich haben wir eine sehr kleingliedrige Landschaft etwa mit Agenturen, wo die Ressourcen vielfach nicht da sind und ethische Fragen deswegen oft nebenher erledigt werden. Aber meine Empfehlung wäre im Sinne von ethischen First-Mover-Strategien: Warum sich nicht auch als kleine Firma an der Stelle profilieren? Die Tony-Stone-Bildagentur etwa hat ein Kennzeichnungssystem eingeführt, welche Bilder digital bearbeitet sind. Auch Unternehmensethik kann ein Wettbewerbsvorteil werden.

Die Ethik sucht Begründungen und arbeitet mit Konzepten und Prinzipien wie Gerechtigkeit, auf die wir Menschen uns schon immer verlassen haben. Kann bei den neuen Fragen jeder mitreden?

Zeilinger: Ja, es kann und sollte jede und jeder im gesellschaftlichen Diskurs mitreden. Es geht um wesentliche Fragen: Wie sollten die Anforderungen an die elektronische Patientenakte gestaltet sein? Da braucht es den politischen Streit, und davor muss jeder von uns sich Gedanken machen, nach Begründungen und Abwägungen fragen und das in die politische Entscheidung mit einbringen.

Das erscheint einem schwierig in hysterischen Zeiten, da jede Entscheidung sofort riesige Wellen schlägt, gerade in den sozialen Medien. Wird es schwieriger für die Ethik, gelassen zu bleiben?

Zeilinger: Was wir gesellschaftlich brauchen, ist eine Art Abkühlbecken. Angesichts der Schlagzeilen müssen wir, und das ist auch eine ethische Aufgabe, ein Stück Gelassenheit lernen, denn von Aufregung zu Aufregung zu hüpfen führt uns nicht weiter. Und dazu können die philosophische und die christliche Ethik beitragen, angesichts von immer aus der Situation heraus drängenden Handlungsimpulsen auch mal zu sagen: Nein, es geht nicht nur ums Soforthandeln, sondern es tut auch gut, sich mal zurückzulehnen und nachzudenken.

(Das Interview wurde für die Schriftform gekürzt und redigiert).

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