Die letzten beiden Jahre waren voller Grenzerfahrungen. Die Sehnsucht nach tiefem Aufatmen wurde immer größer. Ein Ritual ist mir in dieser Zeit besonders ans Herz gewachsen. Jeden Morgen nach Sonnenaufgang mache ich mich auf den Weg. Ich verlasse den Garten hinter unserem Haus, gehe ein paar Schritte durch den Wald und bin in den Wiesen der Regnitz.

Die Weite der Flussauen

Dort in der Weite der Flussauen bin ich meist mutterseelenallein. Die oftmals bizarren Wolkenbilder im Morgenlicht ziehen mich in ihren Bann. Das Mikroklima ist hier deutlich anders. In der Weite der Wiesen ist es immer ein paar Grad kühler als im bebauten Gebiet. Die Luft ist feuchter. Der Wind kommt mir entgegen. Ich spüre, wie er an mir rüttelt, wie er mich durchpustet und mich belebt. Besonders schön finde ich es, wenn ich ihn nicht nur auf der Haut spüre, sondern wenn er in meinen Ohren rauscht. Nach einer halben Stunde kehre ich verändert zurück.

Es ist genau dieser Wind, auf dessen tägliche Erfahrung ich nicht verzichten möchte. Er ist es, warum ich mich täglich auf den Weg mache. Er ist es, der meine Morgenspaziergänge so intensiv und zu kleinen Pfingstereignissen macht. Und ich stelle mir vor, dass es so gewesen sein muss. Damals an Pfingsten, als Gottes Geist wie ein Windstoß die depressiven, traurigen und hoffnungslosen Gedanken der vergangenen fünfzig Tage aus den Köpfen und Herzen der Jünger Jesu vertrieb.

Heilsames Rütteln und Zerren

Damals, als das Sausen und Brausen des Geisteswinds das Wunder von Pfingsten bewirkte. Damals, als alles Schwere auf einmal wie weggeblasen war und etwas mit unwiderstehlicher Kraft einzog in die Köpfe und Herzen der Menschen. Etwas, in dem sie ihren Herrn erkannten, mit dessen Geist sie es da ganz offenbar zu tun bekamen. Etwas, das nicht aufhörte, heilsam an ihnen zu rütteln und zu zerren und sie weiterzutreiben und weiter erzählen zu lassen.

Im Wiesengrund bin ich allein. Aber am Horizont sehe ich den Kirchturm meiner Gemeinde. Ich spüre im Wind den Atem Gottes, der mich mit ihr verbindet. Ich fühle mich verwoben und verwunden. Mit der Natur. Mit mir selbst. Mit anderen. Mit meiner Gemeinde. Mit meiner Kirche. Ich spüre mich als Teil einer Gemeinschaft, die mich trägt. Ich spüre mich als Teil eines größeren Ganzen, das durch Gottes Geist im Innersten zusammengehalten und bewegt wird.

Freier Kopf auf dem Rückweg

Auf dem Rückweg werden meine Sorgen kleiner. In meinem Kopf ist wieder Platz für Kreativität. Ich beginne Verbindungslinien und Zusammenhänge zu sehen. Für Probleme bahnen sich Lösungen an. Gedanken und Dinge verwandeln und verändern sich. Mir geht das Licht auf, dass sich vielleicht doch fügen und verfugen könnte, was noch in der Nacht zuvor weit auseinanderzuklaffen schien. Und mich überkommt die Hoffnung, dass die Welt nicht verloren ist.

Wir brauchen diesen Pfingstgeist, der Auftrieb und Zuversicht schenkt, gerade jetzt in dieser unübersichtlichen Zeit. Diesen Wind, der kreative Räume und neue Perspektiven eröffnet, der tröstet und der um Frieden ringt. Diesen Wind, der Schubkraft für Veränderung hat und auf dessen Kraft wir vertrauen können. Erfahrungen des Pfingstgeistes sind Gottesgeschenke der Ermutigung, aus denen Lebenskraft wird. Sie lassen sich nicht festhalten. Aber wir können sie spüren.

Erzählen, wovon wir träumen

Wir können uns von ihnen stärken lassen und zuversichtlich werden. Und wir können davon erzählen. Erzählen, wovon wir träumen, was wir wünschen und woran wir glauben. Auf meinen Spaziergängen frage ich mich jeden Morgen von Neuem, wie mir geschieht. Denn ich habe das Gefühl, dass da gar nicht ich selbst am Werk bin, sondern dass da jemand anders etwas mit mir anfängt, mich anhaucht, begeistert, ergreift, erhebt und beflügelt, in Bewegung setzt. Ich fühle mich beschenkt und inspiriert. Inspiriert vom Geist Gottes. Und genau das ist es. Genau das ist das Wesen von Pfingsten.

Das Stichwort: Pfingsten

Pfingsten ist nach Ostern und Weihnachten das dritte große Fest im Kirchenjahr. Es wird dieses Jahr am Sonntag, 5. Mai, gefeiert. Der Name Pfingsten geht auf das griechische Wort "pentekoste" (der Fünfzigste) zurück, weil das Pfingstfest seit etwa Ende des vierten Jahrhunderts 50 Tage nach Ostern gefeiert wird. In Erinnerung an die in der Bibel geschilderte Ausgießung des Heiligen Geistes auf die Menschen wird Pfingsten auch als "Geburtstag der Kirche" verstanden. In vielen Gemeinden werden an Pfingsten Gottesdienste unter freiem Himmel gefeiert - in diesem Jahr freilich weiterhin unter den Hygienevorgaben mit Blick auf die Corona-Pandemie.

Die im Frühsommer liegende Feier ist auch ein Symbol für Kreativität und Neuanfang. Den biblischen Berichten zufolge schenkt Gott seit Pfingsten seinen Geist nicht mehr einzelnen Auserwählten, sondern allen Christen: "Sie wurden alle erfüllt von dem heiligen Geist und fingen an, zu predigen in anderen Sprachen", heißt es in der biblischen Apostelgeschichte.

Bei dem Treffen der Jünger Jesu "sah man etwas wie Feuer, das sich zerteilte, und auf jeden von ihnen ließ sich eine Flammenzunge nieder", heißt es im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte. Auf die Pfingsterzählung des Neuen Testaments geht daher wohl auch die Redewendung "Feuer und Flamme sein" für "begeistert sein" zurück.

Im christlichen Kirchenkalender endet mit Pfingsten die österliche Festzeit. In Deutschland und zahlreichen anderen Ländern ist auch der Pfingstmontag arbeits- und schulfrei.