Nach der 0:5-Niederlage im Champions-League-Finale gegen PSG hätte man vom Trainer von Inter Mailand ein Zeichen der Reue erwartet. Eine Geste. Ein Wort der Verantwortung. Doch Simone Inzaghi, der sonst nicht um ausdrucksstarke Worte verlegen ist, sagte lediglich: "Ich bin extrem verbittert.”

Keine Entschuldigung für die Fans, keine Buße für taktische Fehler, kein Rücktrittsangebot. Stattdessen: Enttäuschung, Kränkung und Wut – die italienische Fußball-Trias, wenn es schlecht läuft. Und genau das ist bemerkenswert.

Nach öffentlichen Niederlagen folgt normalerweise ein vertrautes Ritual. Der Verantwortliche – im Fußball fast immer der Trainer – tritt vor die Kameras, senkt den Blick und sagt einen Satz wie "Ich habe Fehler gemacht" oder "Ich trage die Hauptverantwortung". Es ist ein symbolischer Akt der Sühne, ein öffentliches Schuldbekenntnis.

Wenn Schuld zur Pflicht wird

Im Fußball gibt es Regeln, die nirgendwo stehen, aber trotzdem gelten. Eine davon ist: Nach einer Katastrophe wie am Samstagabend muss jemand die Schuld auf sich nehmen. So wie ein Politiker nach einer verlorenen Wahl – wie jüngst unser Fast-nicht-Kanzler Friedrich Merz. Wer versagt, muss sühnen – mit Worten, manchmal auch mit Rücktritt.

Doch warum eigentlich? Warum erwarten wir nach einer öffentlichen Niederlage einen Akt der Reue?

Es geht um Ordnung im Chaos. Um Deutung. Um Gerechtigkeit. Schuld ist eine moralische Kategorie, aber auch ein Gefühl. Wer sie auf sich nimmt, übernimmt Verantwortung und erkennt seine Grenzen an. Es ist ein doppeltes Bekenntnis: zur eigenen Unzulänglichkeit und zur Beziehung zu den Betroffenen.

Das erleichtert die Rollenverteilung. Die Fans dürfen wütend sein, die Spieler können aufatmen und die Medien können einordnen. Und der Trainer wird zur Projektionsfläche kollektiver Enttäuschung, zum Sündenbock.

Die christliche Erzählung

Hinter dieser Erwartung steckt ein kulturell tief verankerter Gedanke: Schuld ist im christlichen Sinn eine existenzielle Erfahrung. Sie zeigt, dass wir frei sind – und dass wir an dieser Freiheit schuldig werden können. Der reformatorische Gedanke unterscheidet zwischen Person und Tat: Einem Menschen kann vergeben werden, ohne dass dies die Handlung rechtfertigt oder kritische Nachfragen unmöglich macht.

Bei Vergebung und Versöhnung geht es um den Menschen. Sie sind keine Schönwetterworte, sondern die Antwort auf das Eingeständnis persönlicher Schuld und auf die Achtung der Person. Im Christentum trägt Christus die Schuld der Welt, um die Beziehung zwischen Gott und Mensch zu heilen.

In säkularer Form lebt dieses Muster fort, jedoch ohne Inhalt. Die Schuld bleibt an demjenigen haften, der sie auf sich nimmt. Es gibt keine Instanz mehr, die sie endgültig aufhebt. Die Rituale der Entschuldigung werden zu symbolischen Ersatzhandlungen. Der Trainer, der die Schuld auf sich nimmt, wird zum Scharnier zwischen der fehlbaren Mannschaft und dem aufgebrachten Fan-Kollektiv. Seine Reue soll die Wunden schließen, die das 0:5-Debakel in die Seelen der Fans gerissen hat.

Ein ehrliches Gefühl

Inzaghi schwingt sich jedoch nicht zur großen Schuldrede auf – nicht aus Trotz, sondern weil er überwältigt ist. "Ich bin viel zu verbittert, um mir Gedanken über meine Zukunft zu machen", sagt er. Allein diese Aussage zeigt, wie sehr die Medien die Schuldfrage in Form möglicher Konsequenzen zuspitzen. Kein kalkulierter Satz, keine Pose. Ein ehrliches Gefühl.

Und darin liegt eine Wahrheit: Wenn das Schuldbekenntnis zur bloßen Geste wird, verliert es seine Kraft.

Vielleicht fehlt also tatsächlich nichts, wenn das Schuldbekenntnis ausbleibt. Vielleicht ist es sogar ehrlicher so. Es ist ein Ausdruck von Ohnmacht, geteilt mit den Fans, den Spielern und dem Verein. Was fehlt, ist nicht das Schuldbekenntnis – sondern der Glaube, dass es noch etwas bewirkt.

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