Mouhanad Khorchide ist in Saudi-Arabien aufgewachsen und hat mehrmals die Pilgerfahrt in Mekka gemacht. "Doch Pilgern im Christentum hingegen war für mich als Muslim eine fremde Welt", schreibt der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie in Münster in seinem neuesten Buch "Ein Muslim auf dem Jakobsweg", das im Herder-Verlag (Freiburg) erschienen ist.

Im vergangenen Jahr hat sich das geändert, als er kurz entschlossen entschied, nach Santiago de Compostela zu pilgern. "Ich war so naiv und ahnungslos, was die christliche Pilgerfahrt betraf, dass ich alles, was ich über die islamische Pilgerfahrt wusste, einfach auf mein neues Vorhaben projizierte",  so der Professor für Islamische Religionspädagogik. Deshalb buchte er einen Flug direkt nach Santiago de Compostela, weil er erwartete, dass er ähnlich wie in Mekka zur Kathedrale gehen werde, um dort bestimmte Pilgerrituale zu vollziehen.

Anders als bei der Pilgerfahrt nach Mekka ist beim Jakobsweg der Weg das Ziel

Er hatte keine Zeit, sich vorab zu informieren und dachte, er könne sich vor Ort dann einer Reisegruppe anschließen. Doch dort angekommen, wurde ihm klar, dass anders als bei der Pilgerfahrt in Mekka nicht die Kathedrale und nicht das Grab des Apostels oder welche Rituale im Mittelpunkt stehen. Der Weg dorthin ist das Ziel und es geht den Pilgern vor allem um die Reise zu sich selbst. So entschied er, 100 Kilometer vom Ziel aus, von Santiago in die entgegengesetzte Richtung nach Sarria zu pilgern.

Seine ersten Eindrücke auf dem Weg waren eine tiefe Stille, mit der er konfrontiert war, eine "fast unerträgliche Stille". Er begann, Selbstgespräche zu führen, "laute natürlich" und es beeindruckte ihn, dass sich in diesem "geistigen schwarzen Loch" wesentliche Sinnfragen in seinen Kopf drängten. "Heute kann ich sagen, dass wir nur dann einen ausgewogenen Zugang zu uns haben, wenn wir in unserem engsten Begleiter, also in uns selbst, den besten Gesprächspartner gefunden haben", schreibt er. Diese "laute Stille" sei muslimischen Pilgern meist abhandengekommen, die heutzutage vor allem mit Flugzeugen nach Mekka fliegen. Früher, bevor es Autos und Flugzeuge gab, pilgerten auch diese wochen- oder monatelang nach Mekka und hatten genügend Zeit, in sich zu gehen und nicht nur eine Reise zu Gott, sondern auch zu sich selbst zu machen, erklärt der Theologe.

Khorchide ging den umgekehrten Jakobsweg, sodass ihm viele Pilger entgegenkamen. Es sei irritierend für ihn gewesen, schreibt der Muslim, dass die meisten der Menschen, denen er begegnete, "nicht gerade aus religiösen Gründen" auf dem Jakobsweg pilgerten, sondern aus ganz individuellen Gründen. Gott von einem Pilgerweg auszuklammern, damit tue er sich schwer.

Egal wo – entscheidend ist, dass wir Pilger bleiben

Sein Fazit, wenn er die unterschiedlichen Pilgerreisen vergleicht: "Auf dem Jakobsweg bin ich mir selbst nähergekommen, in Mekka Gott. Heute würde ich sagen, in Mekka habe ich mich selbst vermisst, auf dem Jakobsweg habe ich die innigen Gespräche mit Gott vermisst. Auf dem Jakobsweg droht die Wallfahrt, sich in eine Art psychologische Therapiewanderung zu verwandeln. In Mekka kann sie zu einer ritualisierten, aber auch rein spirituellen Reise werden. Können nicht beide Aspekte irgendwie zusammenkommen?"

Heute ist Khorchide überzeugt, dass man das Pilgern nicht zu stark an Wegen und Orten festmachen soll. Entscheidend sei, was sich auf dem jeweiligen Weg tue und was sich dadurch in dem Menschen bewege. "Wenn Pilgern ein Weg zu sich und zu Gott ist, dann ist es eine Haltung derjenigen, die aufgehört haben, sich selbst als unveränderlich zu sehen. Wer aufgehört hat zu pilgern, der hat aufgehört, zu wachsen und sich weiterzuentwickeln."

Deshalb beendet der islamische Theologe das Buch mit dem Satz: "Ob auf dem Weg nach Mekka, ob auf dem Jakobsweg oder in den vier eigenen Wänden: Entscheidend ist, dass wir Pilger bleiben." 

Buchtipp

Mouhanad Khorchide. Ein Muslim auf dem Jakobsweg. Pilgererfahrungen der anderen Art, 175 Seiten, Herder Verlag, 18 Euro

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