Welche Musik soll einmal bei meiner Beerdigung gespielt werden? Haben Sie da schon einmal darüber gedacht? Wie soll mein Leben ausklingen? Welche Musik passt zu mir? Zeigt sie, wie ich das Leben und meine Lieben geliebt habe? Sagt die Musik DANKE und tröstet sie? Und schwingt Hoffnung mit, eine Vorstellung vom großen Ganzen über den Tod hinaus, von einem ewigen Leben? Welche Lieder will ich singen lassen – in der Hoffnung, dass da überhaupt jemand mitsingt bei meiner Beerdigung?

Ich weiß von einigen Menschen, die haben in guten Zeiten aufgeschrieben, welche Musik, welche Lieder, welche Texte sie sich wünschen. Ich tu das auch, immer wieder mal, spielerisch, schon seit sehr vielen Jahren. Einmal habe ich einem Freund davon erzählt, und da sagt er: Abschied muss man üben! Ja., hab ich gesagt, und mich ein bisschen belehrt gefühlt: Abschied muss man üben.

So heißt mein Beerdigungslied, meint er. Kennst du nicht? Von Heinz Rudolf Kunze! Nein, ich kannte es damals nicht. Kennen Sie den Song? Er ist schon über 20 Jahre alt…

Zeit zum Trauern und Trübsalblasen

Übers Sterben reden, über Angst und Trauer – das ist so wichtig. im November und auch sonst. Heute ist Totensonntag oder Ewigkeitssonntag. Da zünden wir Kerzen an in den evangelischen Gottesdiensten. Und vielleicht jetzt gerade werden die Namen von Menschen aus der Gemeinde vorgelesen, die im vergangenen Jahr gestorben sind. Jeder Name bekommt sein eigenes Licht.

Ein Licht für Wilfriede, für Christoph, für Gerd, für Bernd und Helga… Erinnerungslichter, Trostlichter, Auferstehungslichter. Sie stehen alle beieinander. So viele Tote, so viel Trauer, so viel Licht. Jedes Jahr an diesem Novembersonntag geschieht das in vielen Kirchenräumen.

Abschied muss man ein-üben. Wir brauchen Rituale, Miteinander-Reden und auch: viel Zeit zum…Trübsal blasen.

Ich mag diesen altmodischen Ausdruck: Trübsal blasen. Nicht nach dem Motto: Jetzt hör mal auf, Trübsal zu blasen, das bringt doch nichts. Als ob ein anderer wüsste, was in meiner Trübsal was bringt und wann es Zeit wäre, damit aufzuhören.

Nein, im besten Sinne des Wortes: Trübsal blasen: Angeblich kommt diese Redewendung von einem alten Brauch, bei Beerdigungen vom Kirchturm herab mit der Trompete oder Posaune zu spielen. Wenn dort also einer steht und "Trübsal bläst", dann begleitet diese Musik die Hinterbliebenen auf dem Weg zum Grab.

Was mir daran so gut gefällt, ist: Alle die in der Nähe sind, hören das, nehmen teil an der Trübsal. Trauern gehört zum Leben, auch zum Leben einer Gesellschaft. Trübsal darf sein. Und sie braucht Zeit.

Nicht nur im Leben von Einzelnen, ganz persönlich, auch öffentlich. Gerade in Kriegszeiten wie diesen. Wir bekommen alle miteinander jederzeit die neuesten Nachrichten, sind schnellstens informiert. Wo bleibt der Raum, um das zu verarbeiten, Raum für das Unaussprechliche, den Schock, die Trauer? Stattdessen: jede Menge Bilder, grausame Videos, grausam, weil sie echt sind, und uns zu Zuschauer*innen macht, auf Tiktok, in Dauerschleife.

Hat unsere Gesellschaft keine Geduld, in sich zu gehen? Ein paar Tage, ein paar Wochen Trauer zeigen, Mitgefühl. Denn die Bilder, die uns erreichen, die sind universell und hautnah. Sie zeigen, was echte Menschen echten Menschen antun. [i]Man müsste Trauer tragen. Keine Flaggen hissen.

Es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Völker gibt, bis zu jener Zeit. (Dan 12, 1b)

"Das Leben muss ja irgendwie weiter gehen…"

…eine Zeit so großer Trübsal, wie sie nie gewesen ist… - So klingen Worte aus der Tiefe, unter Tränen, so klingt es, wenn du todtraurig bist und untröstlich. Wie nie zu vor. Das macht der Tod mit Menschen. Manchmal ist der Schmerz unerträglich, furchtbar, entsetzlich, manchmal sanfter. Trübsal, Trauerzeit braucht Zeit. Viel Zeit. Und da darf niemand sagen: Jetzt wird es aber Zeit, dass du nach vorne schaust und drüber hinwegkommst. Das Leben geht weiter. Ganz von selbst. Und du gehst mit und durch die Trauer. Es ist deine Trauer. Sie kennt dich und du kennst sie. Oder ihr lernt euch gerade kennen. Die Trauer und du - ihr müsst miteinander klarkommen, miteinander leben.

Es gibt viele Ratgeber-Bücher übers Trauern. Früher hat man von Trauerphasen geredet. Ein chronologischer Ablauf, eine Phase folgt automatisch auf die nächste. Und am Schluss - ist es vorbei. Nun ja, inzwischen weiß man, beim Trauern geschieht nichts in einer ordentlichen und verlässlichen Reihenfolge. Und jede Trauer ist anders. Die einen weinen viel. Die anderen fast nie. Die einen wollen reden, reden, reden. Immer wieder den Namen des Menschen aussprechen, der gestorben ist. Der Mann, die Tochter, die Freundin, der Sohn... Andere schweigen.

Manche gehen jeden Tag auf den Friedhof zum Grab und legen all ihre Liebe ins Pflanzen und Gestalten und Pflegen und Gießen. Andere haben gar kein Grab oder besuchen es nicht, weil sich ihre Erinnerung mit einem ganz anderen Ort verbindet oder mit gar keinem Ort.

Trostbilder entdecken

Ich trauere um unseren Sohn. Er ist er vor zweieinhalb Jahren völlig unerwartet mit 26 Jahren gestorben. Und ich werde mein Leben Trauer tragen um ihn. Keine schwarzen Kleider und Pullis mehr wie in der allerersten Zeit, als ich keine bunten Farben ertragen konnte. Ich erinnere mich gut an diese Tage und Wochen. Da habe ich alles um mich herum anders wahrgenommen. Nichts hat zusammengepasst. Wenn ich überhaupt was wahrgenommen habe. Manchmal wie im Nebel, oder unter Wasser. Manchmal wie Durchs-Feuer-Gehen. Die Sinne geschärft wie nie zuvor, das Herz total spürbar, riesengroß. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Ein Buch lesen – unvorstellbar. Irgendwann lese ich doch ein paar Zeilen, die ich schon oft gelesen habe und sie sprechen ganz anders zu mir. Die Worte passen nicht mehr. Oder sie passen zum ersten Mal überhaupt. Ich passe nicht mehr in mein altes Leben. Ein anderes gibt es aber nicht.

So geht es mir auch mit mir lieb-vertrauten Bibelgeschichten, Psalmen, Kirchenliedern, Jesus-Worten - sie haben eine andere Tiefe bekommen. Und einen Widerstand. Und manchmal eine unerwartete Kraft – wie diese Trübsal-Worte vom Propheten Daniel.

Es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Völker gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen.

Und viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande.

Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich. (Dan 12, 1b-3)

Es fängt an mit der Trübsal. Und dann kommt ein ABER. Einfach so. Aber zu jener Zeit… Es wird eine neue Zeit geben. Nach der Trübsal. Neben der Trübsal. Über die Trübsal hinaus. Daniel schreibt ABER in den Trübsal-Himmel und er malt Bilder hinein.

Drei Bilder: Namen, in ein Buch geschrieben. Tote, die im Staub der Erde schlafen und dann erwachen. Und zuletzt: Sie werden leuchten wie des Himmels Glanz, wie die Sterne. Diese drei Bilder malt Daniel für sein Volk. Ich will sie für alle Trauernden in aller Welt hochhalten. In den Trübsal-Himmel.

Namen, Staub und Sterne

Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen.

Ich stelle mir die Namen vor. In schöner Schrift geschrieben. Auf Hebräisch von rechts nach links, in schönster arabischer Kalligraphie, japanische Schriftzeichen, kyrillisch – und Namen, in Kinderschrift geschrieben wie von meinen Enkelkindern.

Jeder Name sieht anders aus. Wie der Mensch, der ihn trägt.  Und ich lese die Namen der Menschen meines Lebens hinein… Meinen Sohn und meine Lieben, die nahe bei mir leben oder in der Ferne, und die, die schon gestorben sind. Aber nicht vergessen.

Totengedenken.

Einen Namen lesen, vielleicht auf einem Grabstein, flüstern, schreien, den Namen aussprechen – so verbinde ich mich mit der Person. Mit dem, was wir geteilt haben, erlebt, gefeiert, auch erlitten.

Das alte biblische Bild vom Buch des Lebens oder das Jesus-Wort: "Freut euch, dass eure Namen in den Himmel geschrieben sind", beide zeigen: Du bleibst. Für Gott bist du immer der, der du bist, die, die du bist. Mit allem, was du getan und nicht getan hast.

Nicht vergessen. Nicht übersehen.

Totengedenken. Namen lesen. Aussprechen. Wenn wir das tun, dann kommen wir nicht um in der Trauer.  Die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar erinnert sich an eine eigene Art des Totengedenkens.[ii] "Meine Großmutter ging in meiner Kindheit immer wieder mit mir auf den Friedhöfen spazieren, sie hatte sieben Kinder verloren, nur mein Vater überlebte. Großmutter blieb vor jedem Grabstein stehen und betete für die fremden Toten, sie konnte weder lesen noch schreiben, ich las ihr die Namen der Toten vor. Großmutter sagte, ich solle die Toten nicht vergessen, sonst werden ihre Seelen Schmerzen bekommen. In der Nacht betete ich und zählte die Namen der Toten auf und schenkte ihren Seelen die Gebete. Ich schaute jeden Tag in die Zeitung und sammelte die Namen der Toten, der Armen, Verrückten, Einsamen. Meine Totenliste wurde länger und länger. Erst hatte ich nur türkische Tote, dann kamen andere dazu. Mein Bruder und ich lasen der Großmutter und ihren Freundinnen Romane vor, z. B. Madame Bovary, um die die alten Frauen weinten, so kam Madame Bovary auf meine Liste der Toten, wenig später auch Robinson Crusoe."[1]

Den Toten Gebete schenken. Dieses Beten übersteigt die Grenzen der Religionen, verbindet uns, Es hat mit Würde zu tun und Trauerkultur. Und mit Liebe.

Und viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande.

Ewige Schmach und Schande? Über diese Entscheidung werden wir nicht zu befinden haben. Nicht jetzt und auch nicht dann… Gott sei Dank! Viele Menschen erleben Schmerz und Höllenqualen bereits in diesem Leben. Auch innerlich. Martin Luther meinte ja, der Mensch hat die Hölle in sich selbst.

Dieses Bild vom Schlafen im Staub der Erde - klingt für mich ganz leise und tröstlich und friedlich. Wie wenn ein kleines Kind schläft.

Wer in Trauer und Liebe an einem Grab steht, stellt sich das manchmal vor: Da liegt sie, da schläft er, unter der Erde. In einem Sarg oder als Asche und Staub in einer Urne. Ich weiß, der Körper verfällt, vergeht, er bleibt nicht ewig. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube. Und ist doch so viel mehr als Erde und Asche und Staub. Ein ganzes gelebtes und geliebtes Leben. In diesem einen unverwechselbaren Körper. So vermissen wir ihn oder sie, so haben wir sie gekannt. Das vergessen wir nicht. Nur unsere Hände, die spüren es nicht mehr. Manchmal berühren sie die Erde, zärtlich, oder streicheln den Grabstein.

Im Staub der Erde schlafen. Das ist ganz organisch. Teil des großen Lebenskreislaufs der ganzen Schöpfung. Unsere Toten ruhen lassen. Und sie weiterlieben.

Vom Staub zu den Sternen, dem dritten Trost-Bild des Propheten Daniel.

Das mit den Sternen ist für viele trauernde Menschen eine schöne und hilfreiche Vorstellung. In den Nachthimmel schauen, Sterne leuchten sehen, einen einzelnen Stern suchen und sich vorstellen, da leuchtest du, mein Sternenkind, mein Liebster, meine Oma…

Über manchen Traueranzeigen stehen diese Worte aus dem kleinen Prinzen: Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne… Ich weiß, das tröstet viele Trauernde. Und es erinnert mich an die Worte von Daniel:

Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, (…) wie die Sterne immer und ewiglich.

Daniel lenkt den Blick nach oben. Von den Toten im Staub der Erde, von den Gräbern unserer Lieben ebenso wie von den Massengräbern aus Krieg und Diktatur - nach oben. Sie verschwinden nicht. Sie leuchten. Sie schenken sogar Orientierung, Lebenshilfe, Trost. Manche glauben das ganz konkret. Dass die Oma oder der Opa vom Himmel aus auf dich aufpasst. Wer weiß das schon?

Dem ABER trauen. Das UND leben.

In einer Woche beginnt die Adventszeit.

Vielleicht tut diese schöne Zeit besonders weh. Weil der eine Mensch fehlt. Seit kurzem oder schon seit Jahren. Und immer noch schmerzt jedes Kerzenanzünden, Musikhören, Liedersingen, der Plätzchenduft – das alles weckt Erinnerungen. Und alle anderen herum, die werden einfach so wie immer Advent feiern, wie früher.

Die erste Adventszeit, das erste Weihnachtsfest nach dem Tod unseres Sohnes, hat für mich nicht stattgefunden. Ich konnte ich das nicht. Sterne aufhängen. Lieder singen. Undenkbar, nie wieder. Das hat sich gewandelt. Ich singe wieder vom Licht und vom Stern. Es geht. Manchmal mit, manchmal ohne Tränen. Es tröstet mich sogar. Mein Leben ist nachgedunkelt. Für immer. Und den Stern, den brauche ich noch viel mehr als früher.

Gott will im Dunkel wohnen, heißt es in einem meiner liebsten Adventslieder. Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt. (EG 16, 5). Beglänzt von seinem Lichte hält euch kein Dunkel mehr. (EG 16,4)

Mich erinnert das an das ABER vom Propheten Daniel. In Trübsal, Tod und Trauer wird es ein ABER geben. Mein ABER klingt so: Ich glaube an die Auferstehung der Toten.

Anders könnte ich nicht (weiter)leben. Ich brauche die Worte, das uralte Bekenntnis seit vielen Jahrhunderten. Den Glauben an Jesus Christus, gekreuzigt, gestorben und begraben, am dritten Tage auferstanden von den Toten. Dieses große ABER ist uns fest versprochen. Und leuchtet. Es verbindet uns mit Gott und all unseren Toten und den Lebendigen an unserer Seite.

Das ABER in uns drin braucht Zeit. Nehmt sie euch, schenkt sie euch und lasst sie allen Trauernden. Nicht immer tröstet ein ABER. Was tröstet, ist ein UND. Nichts wegreden und wegschieben. Beides wird bleiben: das Trauern und das Weiterleben. Hoffen. Lieben. Nebeneinander, ineinander verwoben. Gott will im Dunkel wohnen UND hat es doch erhellt.

Er bescheinet auch deine Angst und Pein, der Morgenstern. (EG 16,1+5)

 


[i] angeregt durch Michel Friedman in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung  11./12.11.2023, Nr. 260, Buch Zwei, S. 12

[ii] Emine Sevgi Özdamar in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner Preises 2022, nachzulesen unter: https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/emine-sevgi-oezdamar/dankrede - aufgerufen am 16.11.2023

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