Weil ich Geburtstag hab!
Ich freue mich so: ich hab heute Geburtstag! Ich hab so gern Geburtstag. Heute Nachmittag kommen liebe Freunde und Freundinnen zu Besuch, auch mein Bruder und meine Schwägerin, es gibt Kuchen und gute Gespräche und vielleicht auch ein bisschen Wehmut. Ich werde 49. Nächstes Jahr wird’s ernst. Da kommt dann aber die ganz große Sause...
An jedem Geburtstagsmorgen höre ich ein ganz bestimmtes Lied, seit bald 20 Jahren. Gleich früh nach dem Aufstehen hole ich die blau-gelbe Doppel-LP aus dem Schrank, schalte den Plattenspieler an und lege die erste Seite auf.
Es knistert und kratzt von der Schallplatte und meistens kommen mir ein bisschen die Tränen, weil das Geburtstagslied von Gerhard Schöne so eine kindliche Naivität hat und gleichzeitig von den Bitterkeiten dieser Welt erzählt: Nur für heute, nur für diesen einen Tag soll die Welt friedlich sein. Die Schallplatte ist von 1988, ich hab sie mal auf einer Reise nach Thüringen gekauft. Gerhard Schöne war damals schon ein bekannter Liedermacher in Ost und West, in seinen Geburtstagswünschen bringt er das augenzwinkernd zusammen: vielleicht ne Flasche Sekt aus der SU, aus der Sowjetunion, dazu ne Tüte Gummibärchen – die kommen aus dem Westen! Gummibärchen gibt es noch, die Sowjetunion und auch die DDR sind Geschichte.
Mit jedem Geburtstag wird einem deutlich, dass die Zeit vergeht: wieder ein Jahr älter. Ich habe gute alte Freunde aus der Schulzeit, die waren bald auf jeder meiner Geburtstagsfeten. Andere sind über die Jahre aus meinem Blickfeld verschwunden. Zuweilen kommen neue dazu, eine frische Freundin aus der neuen Stadt, ein netter Arbeitskollege. Die Zeiten ändern sich, die Zeit verfliegt. Gerhard Schöne singt von den Krisenherden der Welt, wie er sie vor 32 Jahren gesehen hat: Unfall im Atomkraftwerk, Kinderarbeit, Krieg in Afghanistan und Tote in Beirut – das ist alles noch sehr aktuell. Anderes ist aus dem Blick geraten: Nicaragua?! Schwefelschnee?! Was ist da eigentlich los?
Mit jedem Jahr, das ich älter werde, fühle ich diese kindliche Freude, auf der Welt zu sein. Ich sehe so viel Schönes und erlebe wunderbare Dinge und hab so tolle Menschen um mich. Und gleichzeitig spüre ich immer deutlicher die Zerbrechlichkeit des Lebens, meines Lebens – ich spüre, dass nicht mehr für alles die Power da ist. Mir nahe Menschen sind gestorben oder schwer krank. Und die Abgründigkeit der Welt geht mir mehr zu Herzen als früher und ich frage mich: wird sich je was ändern? Kann ich was ändern?
So kurz vor 50 ist Rückblick und Vorrauschau angesagt. Die mittleren Jahre, das ist wie Schwimmen in einem großen See: Man strampelt in der Mitte herum, hält den Kopf über Wasser und blickt um sich: das zurückliegende Ufer ist nicht mehr zu sehen, das Ufer auf das du zusteuerst liegt im Nebel. Wo komme ich her, wo treibt es mich hin? Was habe ich schon erreicht, was möchte ich noch tun? Was steht noch auf meiner bucket list, auf der Liste der Dinge, die ich unbedingt getan haben möchte in meinem Leben? Denn die Hauptdarstellerin in meinem Leben bin schließlich ich und auf der Riesenfete, die ich zu meinem 80ten schmeiße, möchte ich was zu erzählen haben.
Die verschiedenen Generationen hängen zusammen
Enno Bunger ist ein junger Liedermacher, 1986 geboren, ein Millennial, also jemand, der um die Jahrtausendwende 15 bis 20 Jahre alt war. Diese Generation ist die erste, die von Kindesbeinen an mit dem Internet aufgewachsen ist, ein digital native, ein Netzgeborener, im Gegensatz zu mir, die ich eine Immigrantin bin in der digitalen Welt. Vielleicht hat Enno Bunger seinen Song von der bucket list, auf die er jetzt nichts mehr schiebt, sondern loslegt bevor alles im Eimer ist, vielleicht hat er diesen Song geschrieben, weil er eine quarterlife crisis hat. Eine Krise im ersten Viertel des Lebens: Wo komme ich her, wo treibt es mich hin? Was habe ich schon erreicht, was möchte ich noch tun? Vielleicht quälen ihn genau diese Fragen.
Bis vor kurzem habe ich noch nichts gehört von einer quarterlife-crisis, ich kannte nur die midlife crisis, in der ich mich manchmal wähne. Und ich kann mir vorstellen, dass jemand, der in den 1930er und 40er Jahren geboren ist, also im zweiten Weltkrieg oder kurz danach, all diese Krisen mit ihren tollen englischen Namen mit Kopfschütteln betrachtet, etwa in der Art: So was haben wir uns nicht leisten können, wir haben gearbeitet, Familie gegründet, es musste ja weitergehen. Und in der Tat, das zerstörte Deutschland haben sie aufgebaut, die Wirtschaftswunderjahre ermöglicht und genossen; die Kriegskinder haben die Demokratie gefestigt und den Frieden. Mein Eindruck ist aber auch, dass in dieser Generation viel verdrängt wurde, nicht angesprochen, schon gar nicht, was die eigenen Eltern in der Nazi-Zeit gemacht haben. Auch nicht, wie es einem selbst gegangen ist, als Kind zwischen Bomben und Trümmern, wenn man funktionieren musste und nicht zur Last fallen durfte, wenn die kindliche Not nicht wichtig war, weil die Eltern mit Überleben beschäftigt waren. Erst die Kriegsenkel, die Kinder der im Krieg geborenen, haben die Ängste und die Trauer zugelassen, die unbewusst weitergegeben wurden.
Meine Eltern sind sogenannte Kriegskinder; mein Vater hat die Bombenangriffe auf Nürnberg erlebt, meine Mutter war auf dem Land und hat Not und Armut und die Sorge um den Bruder gespürt, der Soldat war. Auch dass man sich möglichst unauffällig verhalten sollte, ist beiden als Kindern eingeimpft worden. Für mich als Kriegsenkel, also als eine aus der nächsten Generation, ist beim Lesen darüber und beim Reden klar geworden, wie stark die Verbindungen sind zwischen den Altvorderen und den Jungen: bestimmte Verhaltensweisen, die Art, wie oder ob man über Dinge spricht, Familiengeheimnisse – all das wird ja bewusst oder unbewusst weitergegeben. Transgenerationale Weitergabe nennen das die Sozialpsychologen. Traumata sind da zuerst gemeint, schlimme unverarbeitete Erlebnisse; ich denke dabei aber auch an andere Verbindungslinien: im Moment gibt es ja viel Hick-Hack zwischen den ganz jungen Schülerinnen und Schülern, die bei fridays for future engagiert sind und den Oldies, meine Generation und älter, also denen, die jetzt Entscheidungen treffen in unserem Land. Die gegenseitigen Vorwürfe lauten: ihr tut nichts gegen den Klimawandel, ihr habt so gut wie gar nichts getan bisher und die Retourkutsche lautet ungefähr so: was wisst ihr denn von Entscheidungsprozessen, Politik macht langsame Schritte.
Ein anderer Generationenvertrag
Das scheint auch so eine Art von Generationenvertrag zu sein, dass die vorige Generation sich befragen lassen muss von den Jungen. Was habt ihr im Dritten Reich gemacht? Das war die Frage der 68er. Was tut ihr gegen den Klimawandel? Das ist die Frage der Jungen heute. Und sicher kommt auch irgendwann die Frage – oder ist sie schon da? Wie habt ihr euch den Flüchtlingen gegenüber verhalten?
Älter werden und die nächste Generation heranwachsen sehen –
ich finde diese Themen auch in der folgenden biblischen Geschichte. Im Johannesevangelium wird erzählt, wie der auferstandene Christus noch einmal die Jüngerinnen und Jüngern trifft. Sie sind zurück am See von Tiberias, sie gehen fischen, wie sie das schon immer gemacht haben. Und auf einmal steht Jesus vor ihnen; nach dem ersten Schrecken frühstücken sie miteinander. Jesus will mit Petrus noch etwas klären: Hast du mich lieb? fragt er seinen Jünger der ersten Stunde. Als er ihn zum dritten Mal danach fragt, wird Petrus traurig:
So antwortete er: Herr, du weißt alles, du weißt, dass ich dich liebhabe. Jesus fuhr fort: Dann sorge für meine Schafe. Höre zu, was ich sage: Du warst einmal jung. Du hast dir deinen Gürtel selbst umgebunden und gingst, wohin du wolltest. Du wirst einmal alt werden, dann wirst du deine Hände austrecken und ein andrer wird dich gürten und dich irgendwohin führen, wohin du nicht willst. (..) Und (Jesus) fügte hinzu: Folge mir nach! (Johannes 21,15-19, übertragen von Jörg Zink)
Jesus führt Petrus vor Augen, dass das Alter mit seiner Gebrechlichkeit und der Hilfsbedürftigkeit schon an die Tür klopft. Man kann immer weniger selbst entscheiden und ist immer mehr auf Hilfe angewiesen: Kannst du mich zum Arzt fahren? Würdest du mir den Kasten Wasser hochtragen? "Als ich noch jünger war, viel jünger als heute, da hab ich Niemandes Hilfe in irgendeiner Weise gebraucht" – so fängt das Lied "Help" an, im Original von den Beatles. Ich mag die langsame soulige Version von Tina Turner. Sie war 45, als sie den Titel aufgenommen hat, und stand kurz vor ihrem unglaublichen Comeback. In ihrer Stimme liegt die gesammelte Erfahrung einer Frau, die weiß, wie älter werden sich anfühlt, wenn man alleine dasteht und sich durchbeißen muss. Und man hört genau, welche Größe es braucht, um Hilfe zu bitten.
"I am happy to be an 80 year old woman!" (Tina Turner)
Im vergangenen November ist Tina Turner 80 geworden. Sie hat eine kurze Videobotschaft an ihre Fans geschickt: "Yes, I’m 80!" So fängt sie an, als könnte sie es selber nicht glauben. Wie habe ich mir das vorgestellt, fragt sie sich selbst. Nun ja, nicht so. I look great! Und dann lacht sie ihr tiefes Tina Turner Lachen. "I am happy to be an 80 year old woman!" Das möchte ich auch sagen können bei meinem 80ten!
Das Leben hatte für Tina Turner noch einiges im petto. Nach der Trennung von Ike war sie nur noch Insidern ein Begriff und dann, wie gesagt, das Comeback mit 45. Mitte der 1980er Jahre startet sie eine Weltkarriere, die ihresgleichen sucht. Mit 69 stand sie noch auf der Bühne und es war ein Fest, sie zu sehen. Diese Energie, dieses Entertainment. Wahnsinn!
Mit Petrus hat Jesus ja anscheinend auch noch einiges vor. Da ist nichts mit "Altenteil" und Lagerfeuergeschichten für die Jungen: "Ich hab den Herrn ja noch live erlebt, das waren Zeiten..." Daran hat Jesus kein Interesse. "Sorge für meine Schafe!" heißt die Aufgabe, die der Mann in der Mitte seines Lebens bekommt. Das heißt: Verantwortung übernehmen, Richtung vorgeben, Vorbild sein. Für mich ist Petrus ein besonderes Vorbild, weil er ein besonderer Typ ist: auf dem Wasser will er laufen, wie Jesus, und als es ihm bewusst wird, was er da macht, geht er prompt unter. So richtig daneben gehauen hat er, als Jesus verhaftet wurde und es darauf ankam, zu dem Freund zu stehen. Dreimal hat er ihn verleugnet. Jesus trägt ihm das anscheinend nicht nach. Hört man die Geschichte, die Johannes erzählt, könnte man sogar sagen: Jesus trägt ihm seine Liebe nach. Dreimal fragt der Auferstandene: Hast du mich lieb? Dreimal sagt Petrus: Ja! Damit ist das Nein der Leugnung nicht gelöscht. Aber Petrus’ Leben bekommt in seiner Mitte noch einmal eine neue Wendung.
"Sorge für meine Lämmer. Weide meine Schafe." Nachfolgen soll Petrus dem, was Jesus angefangen hat. Dem Heißsporn, dem Feigling, dem Mann in der Mitte des Lebens, dem Petrus, Sohn des Johannes: ihm vertraut Jesus an, was er begonnen hat. Nicht wie bei einem Familienunternehmen, in dem der alte Vater und Chef nichts mehr zu sagen hat, wenn die Jungen übernehmen. Das hier ist mehr wie eine Dauerleihgabe. Denn die Lämmer, die Schafe, die Herde – um im Bild zu bleiben – gehören Petrus nicht, sie sind ihm anvertraut. Sie gehören einem Größeren, mit einer Liebe, die menschliche Maßstäbe übersteigt, mit einer Fähigkeit, zu vergeben, die menschliche Kleinkariertheit beschämt. Die Generationen überdauert, von Geschlecht zu Geschlecht.
Wir leben in Nachfolgen
"Alt werden ist wie auf einen Berg steigen" sagt der schwedische Regisseur Ingmar Bergman. "Je höher man steigt, desto mehr Kräfte sind verbraucht, aber umso weiter sieht man." Das tröstet mich, denn meine Kräfte sind auch schon etwas verbraucht von den Bergtouren des Lebens, von der Suche nach neuen Ufern. Ich merke aber auch, dass genau das mir einen anderen Blick verschafft auf die Dinge des Lebens. Einen tieferen, nachsichtigeren, weitherzigeren. Meistens jedenfalls. Mir scheint, Jesus hat genau das in Petrus gesehen: einen Menschen, der schon was erlebt hat im Leben. Der die Höhen und Tiefen kennt, vor allem die eigenen. Der was weiß von der Aufbruchstimmung, wenn man es kaum erwarten kann im Leben und im Beruf endlich alles anders zu machen als die Alten, die einen ausbremsen mit Sätzen wie: "Haben wir schon ausprobiert, das geht hier nicht". Petrus, der was weiß von den eigenen seelischen Abgründen, wenn man versagt, genau da wo man so viel mehr von sich erwartet hätte. Wenn das Bild, das man sich von sich selber gemacht hat, zusammenfällt: ich bin innovativ, ich schaff alles. Zu so einem Menschen sagt Jesus: Folge mir nach!
Wir alle leben in solchen Nachfolgen. Vor mir waren Menschen aktiv und sind es noch, nach mir kommen jüngere Generationen. Sind schon längst in den Startlöchern, naja: man muss dem ins Auge schauen: sie haben längst losgelegt. Es gibt viele junge Kollegen und Kolleginnen, die sich so unglaublich selbstverständlich auf allen sozialen Plattformen tummeln, Instagramm, facebook, youtube und wahrscheinlich noch viel mehr, die ich gar nicht kenne. Da gibt es richtig gute Pfarrerinnen, Seelsorger, innovative Projekte, die auf ihre frische und unkonventionelle Weise das Evangelium unter die Menschen bringen – unter die Generation, die mit dem smartphone quasi nabelschnurmäßig verbunden ist. Manchmal möchte ich da auch mitmischen und tu es auch, bis ich merke: wahrscheinlich liegen meine Fähigkeiten woanders. Und irgendwie auch mein Interesse. Ich bin halt doch old school.
Jede Generation hat ihre Aufgabe. Gesellschaftlich ist das bestimmt so und jede Genration spürt auch, was ihre Aufgabe ist. Zu dieser Aufgabe gehört sicher die Auseinandersetzung mit den Altvorderen und auch die Übergabe an die Nachkommenden. Beides schmerzt: es ist nicht leicht, die Eltern zu hinterfragen, die doch lange die Garanten für Sicherheit und Wahrheit waren. Und es ist nicht leicht, wenn die Kinder ganz andere, vielleicht auch den eigenen Idealen widerstrebende Ideen entwickeln, für richtig halten und auch durchziehen. Wenn man jung ist, kann man auf dem Wasser laufen. Oder man probiert’s zumindest aus. In der Mitte des Lebens hält man im See nach neuen Ufern Ausschau. Und im Alter? Ich weiß es noch nicht. Bin gespannt.
Nur die Liebe lässt uns leben
Im März 1972 war ich gerade ein Jahr alt. Es gibt Fotos von einem großen gutgelaunten Mädchen im weißen Strampler auf dem Schoß der Oma. Wir haben in einem Drei-Genrationen-Haus gelebt, erbaut von den Großeltern, da bin ich aufgewachsen, meine Eltern leben noch dort. Ob sie am 25. März 1972 ferngesehen haben, weiß ich nicht. Es lief jedenfalls der Grand Prix Eurovision de la Chanson. Mary Roos hat für Deutschland den dritten Platz geholt: "Nur die Liebe lässt uns leben" – eines meiner ganz großen Lieblingslieder! Es reißt mich jedes Mal mit. Die junge Mary Roos singt so überzeugt und ungebrochen, wie man es vielleicht nur mit 23 kann. Es ist nur oberflächlich ein Lied, das von zwei Liebenden erzählt. Es geht um mehr, darum, was uns Menschen am Leben hält: die Liebe. Es geht um Vergebung und es geht um ein Ziel: "Du wirst die Straße deiner Sehnsucht gehen." Das ist mein Geburtstagswunsch, dass mir und dass uns allen das immer wieder gelingt, die Straße der Sehnsucht gehen.