Geburt des ersten Kindes: Das Wunder des Aufblühens

Nun ist es bald drei Jahre her – da habe ich unsere Tochter zur Geburt ihres ersten Kindes begleiten dürfen. Unser Enkel kam schließlich mit Hilfe eines Kaiserschnitts zur Welt. In der Nacht seiner Geburt hatte die Hebamme mehrere Geburten zu betreuen. Meine Tochter wurde auf die Aufwachstation gebracht, mich und das Baby brachte man in einen Kreissaal – ich soll doch bitte dort warten, bis die Hebamme Zeit hat. So kommt es, dass ich unseren Enkelsohn in seiner ersten Lebensstunde lange im Arm halten darf. Er ist wach, hat die Augen weit offen. Ruhig ist er, aufmerksam. Er weint nicht.  Es ist, wie wenn er alle neuen Eindrücke in sich einsammelt. Ich bin überwältigt, so ein kleines Menschlein ist doch wie eine Knospe, in der schon alles verborgen liegt, was dann beim Aufblühen zum Vorschein kommt. Wie wird dieses Menschlein sein mit 5, mit 15 oder mit 50 Jahren? Klein und schutzbedürftig kommt ein Menschenkind auf dieser Welt an. Es sprengt die Vorstellungskraft, wie aus diesem kleinen Wesen über kurz oder lang ein erwachsener Mann wird.

Unser Enkelsohn ist nun bald drei Jahre alt. Mittlerweile sehen wir schon einiges von seiner Wesensart: Er ist ein sehr munteres Kind. Er klettert mit Vergnügen auf Klettergerüste am Spielplatz, er turnt gern auf Stühlen oder Sofas herum. Er redet schon allerhand. Es ist überwältigend zu sehen, wie im Handumdrehen aus einem Winzling, der in zwei Hände passt, ein wonniges Kleinkind wird -  voller Ideen und mit bärenstarkem Willen.

Alter: Spätsommer des Lebens

Die Kinderjahre sind wie der Frühling in einem Menschenleben, hier wächst es, es blüht. Ohne Unterlass kommt Neues zum Vorschein. Wunder über Wunder.   Wir, die Großeltern, leben wohl schon eher im Herbst des Lebens, nun ja, vielleicht auch erst im Spätsommer. Noch sind wir sehr gefordert durch unsere Berufe. Wir genießen es in unserer Freizeit Sport zu treiben, fahren gern Rad oder gehen in die Berge. Wir müssen allerdings damit leben, dass manches nicht mehr so gut geht wie in jungen Jahren. Die Knie tun deutlich mehr weh beim Bergab. Zum Lesen der Wanderkarte braucht es die Lesebrille. Auch die Haare sind nicht mehr so üppig und farbig wie ehedem, die Falten im Gesicht und am Hals vermehren sich. Das sind alles keine herben Einbußen, aber sie machen deutlich: das Alter ist im Anmarsch. Unweigerlich wird irgendwann unsere Lebenskraft aufgezehrt sein. So ist das bei uns Menschen und das ist erstmal keine schöne Aussicht. Allerdings gibt es für uns im Glauben noch eine ganz andere Perspektive.

Der äußere und der innere Mensch

Wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. (2.Kor 4,16)  Der Apostel Paulus schaut auf sein Leben und seine Lebenskraft, die er auf seinen Missionsreisen aufs Spiel setzt.  Er lebt in der Gewissheit: der Mensch ist mehr als nun ein Wesen, das spricht und hört, arbeitet und ruht, streitet und sich versöhnt. Inwendig im Menschen ist noch etwas anderes verborgen.  Dass da etwas inwendig in uns wächst und gedeiht, ganz unabhängig ob wir jung und kraftvoll oder alt und schwach sind, das bewirkt Gott. Paulus beschreibt es so:  

Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, ist als heller Schein in unseren Herzen aufgegangen, und hat uns erleuchtet, so dass wir die göttliche Herrlichkeit erkennen, die uns auf dem Angesicht von Jesus Christus erscheint.  (2.Kor 4,4ff nach Jörg Zink)  

Gott leuchtet in uns. Das, was da leuchtet, ist eine überschwängliche Kraft. Sie bewirkt die Entstehung und das Wachstum des inneren Menschen.

Wenn Paulus zwischen dem inneren und dem äußeren Menschen unterscheidet, geht es ihm nicht um die gängige Unterscheidung von Seele und Leib.  Leib und Seele sind eng verbunden und bilden zusammen den äußeren Menschen. Was da in uns wächst und stetig erneuert wird, ist ein ganz neuer Mensch, eine neue Identität. Nein, sehen können wir ihn nicht, den neuen Menschen. Dass da tief in uns etwas im Gang ist – dafür brauchen wir unseren Glauben, denn von außen gesehen sind weder ich noch die anderen Lichtgestalten, eher schon verschattet, verquer, uneindeutig selbst in unseren allerbesten Vorhaben. Der Theologe Jörg Zink schreibt:  

"Im Grunde müssen wir alles, was in diesem Leben wichtig ist, glauben. Die Liebe müssen wir glauben, es gibt keine Liebesbeweise.  Den Sinn unserer Lebensarbeit müssen wir glauben, es gibt keine Erfolgskontrolle. Wir werden allem, was wichtig ist, erstmal begegnen, wenn wir die Augen geschlossen und sie auf der anderen Seite der Wirklichkeit neu aufgeschlagen haben werden." (Jörg Zink, Dornen werden Rosen tragen, Stuttgart 1997, S. 130)

Gottes Kraft in tönernen Gefäßen

  Es ist ein kostbarer Schatz, den Gott uns ins Herz legt, ein helles Licht, eine unermessliche Kraft, etwas von ihm selbst. Es hat schon Sinn, dass wir über diese Kraft nicht frei verfügen können, denn, sagt Paulus,  "wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, auf dass die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns."  (2.Kor 4,7)  Paulus nimmt das Bild von den irdenen Gefäßen, um zu zeigen, wie sich unser innerer und äußerer Mensch zueinander verhalten. Der äußere Mensch gleicht einem irdenen Gefäß, einem Topf, aus Ton geformt, gebrannt und für den alltäglichen Gebrauch bestimmt. Nicht edles, nicht feines, vielleicht schon etwas abgestoßen, da und dort gezeichnet von Rissen und Schrammen. Unser äußerer Mensch wird geschunden, auch wenn wir zuallermeist kein riskantes Leben führen wie Paulus auf seinen Missionsreisen. Er ist dabei mehrfach in Todesgefahr geraten, hat nicht nur Schiffbruch auf seinen Meeresfahrten erlitten, sondern auch bei seinen Auftritten in den Städten zwischen Jerusalem und Athen. Er war weder von unverwüstlicher Gesundheit noch von imposanter Gestalt. Man hat ihn verspottet für seine geringen Talente.

Wenn der äußere Menschen verfällt…

Unser Leben verläuft häufig in viel ruhigeren Bahnen. Trotzdem erleben wir früher oder später, wie unser Leben verfällt. Und eine Art des Verfalls lässt uns beim Älterwerden erschaudern. Weil wir weit älter werden können als unsere Großeltern, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass viele von uns am Ende des Lebens dement werden. Unerträglich erscheint uns in vitalen Tagen die Vorstellung, dass unser eigenes Leben zerbröselt bei schwindendem Gedächtnis. Es beginnt vielleicht damit, dass die seltsamen Ideen, die mich manchmal beschleichen, nicht mehr zurückgedrängt werden durch einen wachen Verstand. Vielleicht kennen Sie das: Sie suchen händeringend Ihr Portemonnaie. Hatte ich es nicht vorhin auf den Esstisch gelegt? Aber da liegt es nicht mehr! Ich hab’s doch hundertprozentig dort hingelegt!  Wie kann es dann weg sein? Naja, das Küchenfenster steht offen, vielleicht ist ein Dieb durch den Garten gekommen, hat still sich ins Haus geschlichen und mein Portemonnaie genommen! Hier sagt mein Verstand: Stop! Überleg mal, wie wahrscheinlich ist es, dass jemand am hellichtigen Tag ungesehen und ohne Lärm durchs Fenster klettert, um deine Börse zu stehlen und sonst nichts?  Mein Verstand überzeugt mich. Ich such an einem anderen Ort und finde es das Portemonnaie.  Es wird schwer werden, sich zurecht zu finden, wenn mein Verstand an Kraft verliert und mein Gedächtnis schrumpft.

Die Demenz ist eine besonders herzzerreißende Weise, wie unser äußerer Mensch verfallen kann. Etliche Menschen denken: ich werde es nicht ertragen, so zu verfallen. Und sie schauen mit Bewunderung auf Menschen, die bei beginnender Demenz ihrem Leben gewaltsam ein Ende setzen. Auch hier schlägt uns der Apostel Paulus eine andere Perspektive vor.  Seine Bedrohtheit, seine Krisen deutet Paulus als Teilhabe am Sterben Christi.  

 "Auf Schritt und Tritt erfahren wir am eigenen Leib, was es heißt am Sterben Jesu teilzuhaben. Aber grad auf diese Weise soll auch sichtbar werden, dass wir schon jetzt in unsrem irdischen Dasein, am Leben des auferstandenen Jesus teilhaben." (2.Kor 4, 10 Neue Genfer Übersetzung)
 

Für Paulus ist sein Leid ein Teilnehmen an dem, was Jesus erleiden musste. Er ist überzeugt, nimmt er sein Leid als sein persönliches Kreuz auf sich, dann hat er zugleich Anteil am Leben Jesu – an seiner bedingungslosen Liebe und seiner Auferstehung.
Es gibt ein Osterlied, das ich sehr mag, weil es genau diese Bewegung vom Sterben zum Leben, vom Leid zur Freude ausdrückt – auch in seiner schwingenden Melodie. "Auf, auf mein Herz, mit Freuden!"

Vorbildliche Pflege von dementen Menschen

Ich komme regelmäßig in ein Seniorenheim, das sich ganz und gar der Pflege dementer Personen widmet. Einmal im Monat halten wir dort einen Gottesdienst. Auf der Küchentheke in einem Wohnzimmer bauen wir einen kleinen Altar auf. Die Organistin spielt auf einer betagten, elektrischen Orgel, die Bewohner warten schon auf uns. Ein oder zwei der Betreuerinnen sind immer beim Gottesdienst dabei. Sie helfen beim Austeilen des Abendmahls. Sie sind sofort zur Stelle, wenn jemand plötzlich unruhig wird, auf die Toilette muss oder nach irgendetwas verlangt. Es wärmt das Herz zu sehen, wie sie mit den Spezialitäten der Heimbewohner umgehen, heiter und gelassen, aufmerksam und liebevoll. Die Organistin und ich sagen oft, wenn wir nach dem Gottesdienst ins Auto steigen: In das Heim gehen wir mal, nur dement werden, nein lieber nicht.

Was ich in diesem Haus sehe, rührt auch an das, was Paulus über den Verfall des äußeren Menschen sagt. Es hilft doch weiter, den Verfall als das unausweichliche Kreuz unserer Existenz zu deuten – und in dieser Akzeptanz frei zu werden für das, was Jesus uns vorgelebt hat: Hingabe und Liebe. Die allermeisten Pflegenden in jenem Heim kümmern sich mit Hingabe um die Menschen, die dort ihre letzten Lebensjahre verbringen. Oft schließen sie sie ins Herz. Wir vermissen ihn sehr, sagt eine Altenpflegerin und tippt auf das Foto eines Bewohners, der vor kurzem gestorben ist. Ja, er fehlt uns, er hat 5 Jahre bei uns gelebt! Wir haben viel Spaß zusammen gehabt.  

Mit uneindeutigem Leid leben lernen

Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. Denn unsre Bedrängnis, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit,  uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig. (2 Kor 4, 16f)


Zeitlich und leicht, unsere Bedrängnis -  so spricht Paulus von den eigenen Leiden.  Und er ermuntert die Leser seines Briefes, ihr eigenes Leid ebenso zu sehen.  Politische Verfolgung, eine tödliche Krankheit oder eine Demenz -  zeitlich und leicht?  Nein, so erleben wir es nicht. Wer ein schweres Leid trägt, das eigene oder das eines nahen Menschen, dem wird das Leid oft unerträglich schwer und schier endlos in seiner Dauer. Wieder fordert uns Paulus auf, seine Perspektive einzunehmen.  Er negiert das Leid nicht, doch er wendet ein: im Vergleich zu der gewaltigen Herrlichkeit, die in uns wächst und auf uns wartet, sind die Zeiten des Leidens nur ein winziger Abschnitt, nicht länger als ein Wimpernschlag.

Aber das zu sehen ist wohl nur unserem inneren Menschen möglich. Zu den Lasten, die unser äußerer Mensch tragen muss, gehört es, dass grad dann, wenn wir etwas Mühseliges durchzustehen haben, sich unsere Zeit ausdehnt wie Hefeteig im warmen Backofen.

Was das Leid der Angehörigen von Demenz Betroffenen besonders erschwert, ist seine Uneindeutigkeit. Ein dementer Ehepartner wird sich verändern, vielleicht verschwindet sogar das, was ihn ausgemacht hat, völlig.

Ist er also noch da oder ist er schon fort? Dieser unklare Verlust macht hilflos. Er nimmt uns das sichere Gefühl, unser Leben mit seinen Aufgaben beherrschen zu können.  Pauline Boss ist eine amerikanische Familientherapeutin. Sie hat erforscht, was Menschen bei uneindeutigem Verlust hilft. Sie hat dafür für Interviews mit betroffenen Angehörigen geführt. Zu einem Interview ist eine ältere Frau gekommen, die sich schon längere Zeit um ihren schwer alzheimerkranken Mann kümmert. Sie ist verstört: mein Mann erkennt mich nicht mehr, aber er bedrängt mich ständig. Ich habe keine ruhig Minute mehr: Er will ständig Sex mit mir, dabei weiß er gar nicht mehr, wer ich bin. Ein paar Wochen später beim nächsten Interview ist die Frau gelassen, heiter. Sie hatte eine Eingebung! Eines Tages zieht sie ihren Ehering vom Finger und legt ihn in ein Schmuckkästchen. In diesem Moment wird ihr klar, wie sie mit ihrem Mann umgehen wird. Sie betrachtet ihn nun nicht länger wie ihren Ehemann. Ihr Mann ist für sie nun ein Mensch, den sie lieb hat und um den sie sich kümmert. Wie sie es vor Jahren bei ihren Kindern gemacht hat, setzt sie ihm Grenzen, richtet ihm ein eigenes Schlafzimmer ein und assistiert ihm bei seiner alltäglichen Routine. Und siehe da: das Miteinander entspannt sich deutlich. Die Frau kann auch benennen, was die Wende bewirkt hat und ihr aus ihrer eigenen Hilflosigkeit geholfen hat. Sie ist so etwas wie eine Witwe in Erwartung gewesen.

Ihr ist klar geworden: sie hat ihren Ehemann verloren, aber an ihrer Seite bleibt ein Mensch, der sie braucht. Sie wurde von der Ehefrau zur Pflegerin. Als ihr Mann stirbt, steckt sie sich ihren Ehering wieder an ihren Finger zusammen mit dem Ring ihres Mannes. Nun ist sie wirklich Witwe.

Es ist gut, wenn Angehörige von Demenz Betroffenen nicht allein bleiben mit ihren Problemen. Reden mit anderen Angehörigen, mit einem Seelsorger oder einer Therapeutin – das kann eine wichtige Hilfe sein mit dem uneindeutigen Leid leben zu lernen. (dazu Pauline Boss, Leben mit ungelöstem Leid München 2000)

Dem Leiden einen Sinn geben

Unser Glauben ist sicherlich keine Immunisierung gegen jegliches Leid. Doch der Glauben kann dem sinnlosen Leid seine Aufgabe geben. Paulus lügt ja nicht, wenn er für sich feststellt: mein Leid ist nur zeitlich und leicht, schau ich auf das, was ich hoffe und erwarte. Unsre Bedrängnis, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit.  
Gottes Herrlichkeit, das ist das Ankommen bei Gott, das Einswerden mit Gott.
Darauf hin ist unser innerer Mensch gerichtet.  

Wenn ich einmal alt werde und mein Verstand langsam verfällt, dann wünsch ich mir Menschen um mich herum, die mich betrachten wie ein altes Kind, das Schutz und Sorge braucht wie ein Neugeborenes.  Das alte Kind ist eine Knospe, die sich langsam zusammen zieht. Sie hat schön geblüht zu ihrer Zeit. Nun ist Zeit, dass sie vergeht.  Was bleibt, ist unsichtbar: Der innere Mensch. Auf ihn warten Wunder über Wunder.