"Was ist das Tapferste, das du je gesagt hast?" 

"Der Junge, der Maulwurf, der Fuchs und das Pferd". Vor einigen Monaten hat mir eine Freundin dieses Buch geschenkt. Ich schau immer wieder gerne hinein -  und muss jedes Mal lächeln. Über den kuchenliebenden Maulwurf. Über den kleinen Jungen, der so viele Fragen hat. Den einsamen Fuchs und das kluge Pferd.  Alle Vier kennen Einsam- und Traurigsein. Und alle sehnen sich nach Nähe, Leichtigkeit, Glück. Es ist ein Mutmach-Buch, es erzählt von Freundschaft und Trost. Nicht aufgeben, zusammenhalten.  "Jeder hat ein bisschen Angst", sagt das Pferd (1) einmal ."Aber zusammen haben wir weniger Angst."  Zusammensein hilft. 

Der Junge und die drei Tiere werden Freunde. Statt sich vor der Wildnis zu fürchten, entdecken sie gemeinsam ihre Schönheit.
Der kleine Junge bewundert das starke Pferd. Einmal möchte er wissen: "Was ist das Tapferste, das du je gesagt hast?"- "Hilfe" sagt das Pferd. Hilf mir. "Wann warst du am stärksten?" "Als ich mich getraut habe, schwach zu sein. Du gibst nicht auf, wenn du um Hilfe bittest. Du weigerst dich aufzugeben."

Das Tapferste, das du je gesagt hast: Hilfe!? Liebe Leserinnen und Leser, ja, ich find es ziemlich mutig, um Hilfe zu bitten. Denn da zeige ich mich. Und zwar verletzlich. Gefährdet. Am Ende. Ich überwinde die Scham. Ich suche mir Hilfe. Das andere kenn ich auch: Ne, ne, ne ich schaff das schon, geht schon, ist nicht so schlimm. Augen zu und durch, tapfer sein. Es alleine schaffen. Aber mutiger finde ich das andere: Um Hilfe bitten. Betteln. Ganz leise. Mit oder ohne Tränen. Oder rausschreien. 
Um Hilfe bitten, Hilfe suchen, das ist was für echte Heldinnen und Helden.

Dranbleiben

 Jesus sagt mal, dass wir Menschen allezeit beten sollen und nicht nachlassen mit dem Beten. "Allezeit beten und nicht nachlassen"(Lk 18, 1). Was für eine Ausdauer muss man da haben.  Ich weiß noch, mit welcher Ausdauer ich als Kind gebetet habe. Ich habe mir jahrelang sehnlichst einen Esel gewünscht, einen echten, lebendigen Esel. Und jeden Abend dafür gebetet. Inniglich. Allezeit. Ich habe wirklich nicht nachgelassen. Wohin sollte ich denn sonst mit meiner Kinder-Sehnsucht - und mit der traurigen Ahnung: Ich werde ihn nie bekommen, den Esel, der Wunsch wird sich nie, nie, nie erfüllen. Dieses Beten hat mich vielleicht vorbereitet auf alles spätere Beten. Wie ein Einüben. Sag Gott, was du brauchst, wonach du dich sehnst. Damit du es überhaupt aushältst. Manchmal wünsch ich mir diese kindliche Ausdauer zurück. Etwas von der Gewissheit: Gott macht das, Gott kann das. Wirklich. Für mich. Fast trotzig. "Allezeit beten und nicht nachlassen" also dranbleiben.

 Mir fällt da unser alter Kater Jamie ein. Der lebt schon lange nicht mehr, aber ich seh ihn noch genau vor mir. Jamie, dieser immer hungrige Kater mit seiner lauten Stimme. Da hockt er malerisch vor der geschlossenen Küchentür. Ich hör ihn maunzen und maulen. Das arme Tier scheint zu verhungern. Dabei hat unser Sohn oder unsere Tochter ihn längst gefüttert - aber man kann es ja mal versuchen. Unbeirrbar maunzt und bettelt er und müsste doch längst wissen: Jamie, es gibt jetzt nichts! Irgendwann schaut er mich dann mit seinem grünäugigen Blick an, als wollte er sagen: "Du bist doch nur neidisch!" Und stolziert davon. Ja, irgendwie hat er recht: Ich kann da schon neidisch werden… Dieses Einfach sagen, was du jetzt gerade brauchst oder willst. Kein Höflich-sein, kein Auf-die Uhr-schauen, ob´s gerade passt. Mich einfach pritschebreit auf die Türschwelle hocken und maulen, bitten, betteln, drängeln, nörgeln, nerven - und nicht müde werden.

Ich hab das verlernt mit dem Erwachsenwerden. Sie vermutlich auch, liebe Leserinnen und Leser. Und in mancherlei Hinsicht ist das ganz gut.  Aber beim Beten? Kann Beten auch so was sein wie: Gott anmaulen, Gott auf die Nerven gehen? Einfach nicht nachlassen - weiterbeten. Jesus erzählt ein Gleichnis dazu.

Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam immer wieder zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher! Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen, will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt kommt und mir ins Gesicht schlägt. (Lk 18, 2-5)

Diese Witwe hält sich nicht zurück, hält nicht still, sie hält nicht den Mund. Unverschämt! Diese Frau. Findet der Richter.
Und er selber?  Ein Fiesling, karrieresüchtig, schamlos, selbstherrlich. Kein Respekt vor irgendeinem Menschen und auch nicht vor Gott. Unverschämt! Dieser Richter.  Und ausgerechnet diese zwei treffen aufeinander. Die Witwe und der Richter.  Was für ein Machtgefälle.  Welten trennen sie. Aber die Frau nimmt diese Trennung einfach nicht hin. Nein! Wir sind alle Menschen, leben auf der gleichen Erde, haben die gleichen Rechte, verdanken uns dem selben Gott. 

Und so kämpft sie für ihr Recht. Für das, was ihr zusteht. Es wird nicht gesagt, was das ist. Witwenrente, Wohnrecht, so was wäre es heute. Auf jeden Fall ist es gesetzlich geregelt, dass einer für diese Witwe zu sorgen hat, sich kümmert. Und der scheint das nicht zu tun. Als Witwe hat sie keinerlei Macht. Nichts zu sagen, nichts in der Hand. Offensichtlich auch kein Geld, kein Druckmittel, mit dem sie den Richter bestechen könnte. Sie ist gesellschaftlich gesehen ein Niemand.

 Die Witwe ist vermutlich eine junge Frau. Sie trauert. Sie hat ihren Liebsten verloren, sortiert ihr Leben neu, den Alltag und auch die Zukunftspläne und Träume. Trauern macht einsam, und es kostet Kraft. Außerdem hat sie ohne Ehemann alle Sicherheiten verloren - vielleicht verarmt sie. Welche erniedrigenden Blicke oder Sprüche muss sie aushalten? Ich staune darüber, woher sie die Kraft hat und sich traut. Wie sie sich zeigt und für ihren Wert kämpft und vielleicht auch für ihre Kinder, die bei ihr aufwachsen. Das kann sie: Bitten, Drängeln, Nerven, Hartnäckig-Sein, Dranbleiben. Und das tut sie. Immer und immer wieder. Steter Tropfen höhlt den Stein. Und sie macht die Sache öffentlich. Nur deshalb erfüllt der Richter schließlich ihre Bitte. Weil sie nervt. Weil sie so unverschämt ist. Weil sie sich nicht schämt, laut zu werden. Und das Tapferste überhaupt sagt, Hilfe!

Muxmäuschenwild

Ich lese das Gleichnis als eine Mutmachgeschichte: Mach deinen Mund auf. Bleib dran.  Nicht brav sein sondern auf den Putz hauen, aufmucken… Statt stillhalten, mucksmäuschenstill - lieber "mucksmäuschenwild" werden. Muxmäuschenwild - so heißt eine junge PR-Agentur in Berlin. Sie spielt in ihrem Namen bewusst auf diese Haltung an. Es geht ums Frechsein, um Courage, Hartnäckig-Dranbleiben. Du sollst zeigen, was los ist - dich nicht wegducken und verbergen. Das übrigens kennen wir auch von Jesus: Das Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern leuchten lassen (Mt 5,15). Zeig dich! Gib nicht auf. Es lohnt sich - dieses "Allezeit beten und nicht nachlassen".

Beten hilft nicht unbedingt in dem Sinn, dass das geschieht, worum ich Gott bitte. Wie bei dem Esel - den hab ich damals als kleines Kind nicht bekommen, so sehr ich auch gebetet habe. Nicht alle Lebenswünsche und Träume erfüllen sich. Trotz Beten. Aber im Beten suche ich Gott. Schaue auf, schaue über mein kleines Leben hinaus. Verbinde mich mit der Weite des Himmels. Manchmal macht mich das ganz ruhig. 

Im Vaterunser heißt es: Dein Wille geschehe. Ich weiß nicht, was Gottes Wille ist. Ich verstehe ihn auch nicht immer. Muss ich vielleicht auch nicht. Dein Wille geschehe - das meint auch: Ich lasse meinen Willen los, mein Wollen, diese ganze Anstrengung, das ewige Planen… Ich lege es Gott hin. Lege mich Gott hin. Mein Leben. Und die Menschen, um die ich mich sorge.
Solches Beten kommt mir ganz …natürlich… vor. In allen Religionen beten Menschen so. Sogar die, die sagen, sie gehören zu gar keiner Religion.

Ich weiß von einigen Leuten, die sagen: Also, an Gott glaube ich nicht. Aber sie beten trotzdem manchmal. Wie von selbst. Eine Konfirmandin von mir hat mal ihre Vorstellung von Gott so gemalt: Ein riesiges Ohr im Himmel. Ich glaube, sagt sie, Gott ist wie ein großes offenes Ohr. Er hört alle Gebete. Das glaube ich auch. Gott hört. Alle Gebete. Von allen Menschen.

 Seit Jahrzehnten begleitet mich ein Buch, das heißt: "Allein mit Gott. Gebete eines Menschen, der nicht betet." Darin stehen für mich einige der schönsten und wildesten, traurigsten und poetischsten Gebete, die ich kenne. "Geflüsterte Geheimnisse der Seele", steht im Vorwort. Aufgeschrieben hat sie der polnische Kinderarzt und Pädagoge Janusz Korczak. Sie heißen: Gebet eines armen Kerls, Gebet eines kleinen Mädchens, Gebet eines Künstlers, eines Erziehers, Gebet des Aufruhrs, Gebet des Übermuts…
Vor über 100 Jahren schreibt er:

"Indem ich die Zeremonien ablehne, gleiche ich einem ungläubigen Menschen. Aber der Glaube an Gott und das Gebet sind mir geblieben. Daran halte ich fest, denn ohne den kann man nicht leben. (…) Ich will nicht in das Wesen des Glaubens eindringen. Ich glaube. Jeder kritische Gedanke verlasse mich. Ich glaube. Ich will dein Diener sein, Krümel und Staub. Ich glaube, dass du mich verteidigen wirst, o Gott. Selbst will ich nicht kämpfen, weil ich klein und schwach bin. Du wirst mich verteidigen. Ich glaube…" (S.77f)

Glauben und Beten - das klingt hier so lebensnotwendig wie Atmen - es gehört zum Menschsein dazu, zum Klarkommen, zum Durchhalten im Leben. So ähnlich höre ich das auch in dem Lied "Pray", "Bete" von Sam Smith. "You won't find me in church reading the Bible, singt er. Du wirst mich nicht in der Kirche beim Bibellesen finden. Ich bin aber immer noch hier…und ich bete zu dir…. Gerade in Situationen, wo ich keine Worte finde für das, was um mich herum los ist oder in mir drin. Und ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Maybe I'll pray…Vielleicht bete ich…

Liebe Leserinnen und Lesrer, erinnern Sie sich noch an den Abzug der NATO-Einsatzkräfte aus Afghanistan? Das war letztes Jahr Ende August. Viele haben entsetzt und besorgt die Nachrichten verfolgt, hilflos, geschockt, wütend, traurig - über so viel Sterben und Leiden, vergebliches Bemühen und Kämpfen. Wie wird es weitergehen dort im Land, mit den Frauen und Mädchen, mit den Männern? Ich erinnere mich noch an einen ganz schlichten Post aus der Zeit auf instagram. Ein Bild zeigt die Fläche des Landes Afghanistan. Ganz in Schwarz. Und darunter steht: Betet ohne Unterlass. Damit ist alles gesagt. Weil so wenig sagbar ist. I just don't know what to say. Maybe I'll pray…

Wenn niemand weiß, was richtig ist – Beten geht trotzdem und immer. Über alle Grenzen und Entfernungen von Raum und Zeit hinweg. Beharrlich, hartnäckig, unermüdlich beten. Die Witwe aus dem Gleichnis ist da ein Vorbild für mich. Sie bittet und kämpft. Muxmäuschenwild. Ich finde das stark. Zugleich weiß ich: Das geht nicht immer so einfach.  In jedem Leben gibt es "gebetsarme" Zeiten. Ich kenne das auch. Nicht mehr beten können wie früher. Nicht mehr, bitte, lieber Gott, sagen. Sondern eher: Wo bist du Gott? Ich schaffe es gerade nicht. Da wächst der Zweifel. Und Gott scheint weit, weit weg.

Petrus fällt mir ein. Der Jünger von Jesus. Immer nah dran, immer standhaft bei Jesus. Und dann wächst der Zweifel. Jesus ist unerreichbar, weit, weit weg. Als er verhaftet wird, folgt Petrus ihm heimlich. Will in seiner Nähe bleiben. Allezeit und nicht nachlassen. Aber er schafft es nicht, er verleugnet und verlässt ihn. Verliert ihn? Wie ist das möglich: Dieser Jesus, sein Meister, Rabbi, sein Freund - verschwindet von der Bildfläche!? Der war das Leben für Petrus. Einfach weg? Und Petrus kann ihn nicht halten. Verzweifelt lässt er es dann - und haut ab.

Bei Johann Sebastian Bach in der Johannes-Passion klingt diese Verzweiflung für mich trotz allem tröstlich. Petrus singt da quasi mit Sopranstimme - und bittet Jesus: "…höre nicht auf, selbst an mir zu ziehen, zu schieben, zu bitten."  Also, genau andersrum wie bei der bittenden Witwe. Die hängt sich an den Richter dran und hört nicht auf "zu schieben, zu bitten". 
Petrus kann das nicht mehr. Er kann nicht mehr wie früher hartnäckig dran bleiben. Zu groß ist der Schmerz, der Verlust. Aber was er noch kann, ist: Jesus bitten, an ihm dran zu bleiben. Ich schaff es nicht - aber du, Gott, bleib du bei mir.

Fürbitte

Ich will das glauben: Gott bleibt an mir dran. Unermüdlich, unverschämt hartnäckig - aus Liebe.  Ich will das glauben. Für mich und für andere. Das "Allezeit beten und nicht nachlassen" verstehe ich auch als Beten für, für andere - Fürbitte halten. Gerade wenn ich selber nichts tun kann. Weil es mir entgleitet. Weil ich an diesen bestimmten Menschen nicht herankomme. An die schwierige Kollegin, den verhaltensauffälligen Schüler, das verschlossene Patenkind.

Der Freund, der auf der Intensivstation beatmet wird. Ich bete für dich. Ich zünde eine Kerze für dich an. Das ist alles, was ich tun kann. Aber das kann ich tun. "Allezeit beten und nicht nachlassen". Wieder und wieder. Gerade dann, wenn ich ratlos und verzweifelt bin, wenn nichts anderes geht. Es vor Gott bringen, hinschleppen, ablegen, auf Rettung hoffen. Und wieder kommt mir eine Katze in den Sinn. Diesmal ist es kein hungriger Kater, sondern eine Katzenmutter. Aus einem Gedicht. Eine Katzenmutter, die ihre Kinder retten will. 

Noch geb ich nicht auf
Ich geb nicht auf
Ich bringe dich zwischen den Zähnen vor Gott –
wie eine misstrauische Katze,
die ihre Jungen verschleppt,
dass man sie ihr nicht ertränkt.

"Noch geb ich nicht auf" heißt das Gedicht. Ich finde, es könnte auch: "Fürbitte" heißen. Beten mit Haut und Haar. Auf Leben und Tod. Nicht aufgeben. Ich habe dieses Gedicht schon manchmal an Freundinnen geschickt, die sehr schwere Sorgen hatten. Um ihr Kind.  Manchmal geht nur noch das: "Ich bringe dich zwischen den Zähnen vor Gott" – In Sicherheit. Geborgen. Keiner kann dir was antun.  Die misstrauische Katze, die mutige Witwe - für mich gehören sie zusammen. Manchmal bin ich wie die Witwe, bete leidenschaftlich und gebe nicht auf. Und dann wieder brauche ich selber die Katzenmutter, die kommt und mich "zwischen den Zähnen vor Gott" bringt.

 (1) zitiert nach Charlie Mackesy, Der Junge, der Maulwurf, der Fuchs und das Pferd, Berlin 11. Auflage 2021

 

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.