Da hilft doch nur noch beten…. oder??!! Sie schleudert mir den Satz vor die Füße - halb provozierend, halb wütend. Dabei ist sie eigentlich nur noch erschöpft. Sie ist Leiterin eines kleinen Gesundheitsamtes. Seit Monaten organisiert sie alles, was mit der Pandemie zu tun hat: Quarantäne und Nachverfolgungen, Statistiken und Impfkampagnen. Sie ist am Ende ihrer Kraft. Gerade hat sie erfahren, dass ihre Mutter, die in einem Pflegeheim lebt, positiv getestet wurde.

Das war vor ein paar Wochen. Ich weiß nicht, wie es ihr im Moment geht. Ich weiß, dass die Mutter die Krankheit überstanden hat. Aber es gibt so viele andere Schicksale. Weltweit kämpfen Menschen seit mehr als einem Jahr mit Krankheiten, mit Angst, mit Erschöpfung, mit Ungewissheit, mit Traurigkeit und Verzweiflung. Da hilft nur noch beten, oder?

Ob Beten hilft - in auswegloser Lage? Wenn ich mich von allen Seiten bedroht erlebe?

Pfarrerin Barbara Hauck über das Beten

Ich hab‘ mich das schon als Kind gefragt. Da gab es nämlich diese Löwen. Eine ganze Seite der Kinderbibel nahmen sie ein, zähnefletschend lagen sie in einem dunklen Verlies, umgeben von abgenagten Knochen. Sie warten nur darauf, dass man wieder einen in ihre Grube werfen würde. Einen wie Daniel zum Beispiel. Der war ein rechtschaffener frommer Mann, ein oberster Beamter am Hof des Königs Darius. Aber weil es ein Gesetz gab, dass man zu keinem anderen beten darf als zu eben diesem Darius, wurde er, der jeden Tag seine Gebete verrichtete, zur Strafe den Löwen zum Fraß vorgeworfen. Als man am nächsten Morgen die Löwengrube wieder öffnet, ist Daniel unverletzt. "Die Löwen konnten mir nichts antun, sagt er dem fassungslosen Darius. Gott hat seinen Engel geschickt…".

Daniel ist in der Bibel der Inbegriff des frommen Beters, der sich auch noch in der ausweglosesten Lage an Gott wendet, Und Gott bewahrt ihn….  Wie macht er das? Was passiert da?

Im biblischen Buch Daniel ist ein Gebet des Daniel überliefert… Löwen kommen keine vor und ein Engel auch nicht. Aber die Worte, die Daniel spricht, lassen tief hineinschauen in diese besondere Beziehung zwischen einem Menschen und Gott, die sich im Gebet ausdrückt.

Ich betete zu dem Herrn, meinem Gott, und bekannte und sprach:

Ach, Gott, du großer und schrecklicher Gott, der du Bund und Gnade bewahrst denen, die dich lieben und deine Gebote halten!

Wir haben gesündigt, Unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden; wir sind von deinen Geboten und Rechten abgewichen.

Ach, Gott, um all deiner Gerechtigkeit willen wende ab deinen Zorn und Grimm von deiner Stadt Jerusalem und deinem Heiligen Berg. Denn wegen unserer Sünden und wegen der Missetaten unserer Väter trägt Jerusalem und dein Volk Schmach bei allen, die um uns her wohnen.

Und nun, unser Gott, höre das Gebet deines Knechtes und sein Flehen.

Laß leuchten dein Angesicht über dein zerstörtes Heiligtum um deinetwillen, Gott.

Neige deine Ohren, mein Gott, und höre, tu deine Augen auf und sieh an unsere Trümmer und die Stadt, die nach deinem Namen genannt ist. Denn wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.

Ach, Gott, höre! Ach, Gott, sei gnädig! Ach, Gott, merk auf und handle! Säume nicht - um deinetwillen, mein Gott! Denn deine Stadt und dein Volk sind nach deinem Namen genannt. (Daniel 9, 4-5.16-19)

Sieh an unsere Trümmer…

Beten, hat einmal jemand gesagt, heißt, in der Gegenwart Gottes leben. Ein Gebet ist so etwas wie ein Raum, der sich um Gott und mich herum öffnet. …

Der Raum, den Daniel mit seinem Gebet eröffnet, ist groß: Das ganze Volk Israel nimmt er mit hinein vor Gott. Das Gebet des Daniel ist ein sehr politisches Gebet. "Wir haben gesündigt, Unrecht getan…".

Er spricht vor Gott aus, was falsch gelaufen ist im Verhältnis zu Gott. Er blickt zurück auf die Zerstörung Jerusalems. Er kann sie nicht anders verstehen als eine Strafe Gottes für  den Unglauben und alle Gottvergessenheit seines Volkes. Er blickt auf die, die durch Krieg und Gewaltherrschaft ihre Heimat verloren haben und in der Fremde leben müssen. Sie haben sich eingerichtet - aber in ihren Herzen ist die Sehnsucht nach Jerusalem geblieben und die Frage: wann sind Krieg und Gewalt zu Ende? Wann können wir wieder nach Hause? Es sind doch schon Jahrzehnte vergangen. In diesem Gebet sagt Daniel nicht zu Gott: Wann endlich hört dieses Elend auf? Er sagt - nach Jahrzehnten - endlich: wir haben gesündigt…  Er nimmt das, was die Menschen erleben und worunter sie alle gemeinsam leiden zum Anlass, das eigene Tun zu hinterfragen. Wir haben etwas falsch gemacht. Aussprechen hilft. Aussprechen befreit.

Es braucht Zeit, um in der Rückschau Worte zu finden für das, was geschehen ist und warum und wie die, die darunter leiden, daran selbst beteiligt waren. Das Gefühl des Versagens, das Wissen um Fehler sitzt ja auch tief drinnen in mir, in uns…. Es ist wichtig, Worte dafür zu finden….

Das Versagen muss aussprechbar sein und Raum haben, auch im Gebet. Dann kann sich mit Worten ein Raum eröffnen, in dem Menschen wieder aufatmen und sagen können: Ja - da war etwas falsch - …. Das ist befreiend.

Vor 76 Jahren ist der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Es hat lange gedauert, bis in Deutschland öffentlich ausgesprochen werden konnte, dass diese Niederlage eine Befreiung war. In seiner Rede zum Kriegsende 1985 hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker gesagt: "Der 8.Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft." Nicht das Kriegsende war die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit, sondern der Anfang des Krieges und jener Wege der deutschen Geschichte, die zum Krieg führten…

Ein Jahr nach Beginn der Pandemie ist es möglich, bei dem Gedenken an die Opfer der Pandemie alle einzuschließen: die gestorben sind und alle, die auf ganz unterschiedliche Weise an den Folgen der Pandemie leiden. Es kann auch gesagt werden, dass es nicht einfach eine Seuche ist, die das alles verursacht hat - sondern dass neben allem Bemühen zu heilen, zu lindern, die Krise gemeinsam zu bewältigen, auch Fehler gemacht worden sind und elementare Gebote von Nächstenliebe und gegenseitiger Fürsorge außer Kraft gesetzt wurden. Von Strafe Gottes reden wir heute nicht mehr. Das ist für mich befreiend. Aber das Versagen muss ausgesprochen werden.

Daniel findet für dieses Versagen und seine Folgen in seinem Gebet ein anrührendes Bild: "Sieh an unsere Trümmer", bittet er Gott. Sieh an, was zerbrochen ist und hilf uns, es anzusehen. Und plötzlich sehe ich vor mir alte Menschen, die mir erzählen, dass das Verhältnis zu ihrer Mutter oder ihrem Vater niemals heil, sondern immer brüchig war, weil diese Eltern als zerbrochene Menschen aus dem Krieg zurückkamen und niemals gesprochen werden durfte über solche Brüche und Trümmer. Sieh an, Gott, welche Lasten von Eltern auf Kinder und deren Kinder weitergegeben worden sind, Unverständnis, Schweigen…. Und ich sehe die vor mir, die jetzt unter den Regelungen leiden, mit denen die Pandemie bekämpft werden soll, Kontaktverbote, Impfpriorisierung, Maskenpflicht… Sieh an, Gott, wie viel Missverständnis, Unverständnis, Angst und Neid sich auftürmen zwischen Menschen.  Es geht dabei nicht darum, ob gesetzliche Regelungen oder Verordnungen falsch oder richtig sind. Es geht darum, ob wir bei aller Angst, bei aller Unsicherheit, bei aller Auseinandersetzung über den richtigen Weg durch die Pandemie fähig bleiben, einander als einzelne Menschen mit unseren Bedürfnissen und unserer Geschichte wahrzunehmen und uns einander zuzuwenden.

Deshalb ist es hilfreich, gemeinsames und individuelles Versagen, Brüche und Trümmer im Gebet vor Gott zu bringen. Der Raum des Gebets ist groß genug. Aussprechen hilft. Daniel weiß das. Es ist der erste Schritt, die Macht der Löwen zu bannen.

Wenn der ganze Körper betet

Und dann hilft es, sich im Gebet mit Gott zu verbinden.

Gott, der gemeinsam mit Daniel und mir und allen anderen in dem Raum des Betens steht, ist keiner, der straft. Es ist einer, der sieht und hört und sich zuneigt und sein Angesicht leuchten läßt… Wenn ich das so sehe, wird aus diesem politischen Gebet, in dem kollektives Versagen ausgesprochen wird, eine sehr persönliche Gottesbeziehung.

Wir liegen vor dir… Im Alten Testament findet sich wie in allen Religionen eine grosse Spannbreite von Gebetshaltungen: Personen verneigen sich, knien sich nieder zum Gebet oder werfen sich vor Gott auf den Boden. Beten bezieht den Körper mit ein. Die Beziehung zu Gott in diesem Raum des Gebets geht nicht nur über Gebets-Worte. Der ganze Körper betet. Ich nehme vor Gott Raum ein, genau so, wie ich bin und wie ich mich ihm zeigen möchte.

Wir liegen vor dir … es lockt mich für einen Moment, diese Haltung nachzufühlen. Auf dem Boden liegen, sich ausstrecken… Ganz bei sich sein. Da ist nichts mehr, was mich ablenkt…. Ich muss mich nicht mehr um anderes kümmern. Es geht nur noch um mich. Ich spüre meinen Atem. Ich nehme wahr, wie mein Körper vom Boden getragen wird… Ich spüre aber auch, wie sehr ich darauf angewiesen bin, dass ein anderer mich sieht… denn ich selbst, ich bin ja ganz bei mir, nicht mehr im Außen, weiß nicht mehr, was um mich herum geschieht. Und auf einmal spüre ich die große Sehnsucht, dass da jemand ist, der mich freundlich ansieht…

Laß leuchten dein Angesicht…  Neige deine Ohren, mein Gott, und höre, tu deine Augen auf und sieh…

Es gibt in jedem Leben Situationen, wo wir mit all dem, was das Leben uns gerade zumutet, mit Schicksalsschlägen, mit Trümmern, mit all unserem Versagen und in all unserer Schwachheit auf dem Boden liegen. Nichts mehr tun, nicht mehr argumentieren, nicht mehr verhandeln…  Manchmal ist einfach keine Kraft mehr da, aufrecht zu sein, manchmal kann man sich nur noch hinfallen lassen. Es sein lassen. Mit all dem, was geschehen ist, vor Gott sein, mit dem Gelungenen und dem Misslungenen und den vielen Fragezeichen, warum … Dann hilft es, eine Vorstellung von Gott zu haben, der sieht und hört und sich mir zuneigt 

Laß leuchten dein Angesicht… Neige deine Ohren, mein Gott, und höre, tu deine Augen auf und sieh…

Ich rede manchmal mit einer alten Dame, die nicht mehr lang zu leben hat. Sie liegt im Bett. Vieles geht ihr durch den Kopf. Gelungenes und Misslungenes. Fragen, die sie umtreiben. Menschen, die auf einmal da waren und für einen Moment etwas gemacht haben, was ihr Leben in eine andere Richtung gelenkt hat. Manches ist ganz anders geworden, als sie es sich vorgestellt hat. Manchmal gab es Rettung in letzter Sekunde, ohne dass sie das Geringste hätte tun können. "Das hat Gott gelenkt? Kann man das sagen?", fragt sie dann manchmal. Ich weiß, dass sie allen frommen Deutungen gegenüber sehr skeptisch ist. Eigentlich gilt nur, was sie selbst erreicht hat - und was sich mit Zahlen und Fakten beweisen lässt. Aber nun, am Ende ihres Lebens, gibt es nichts mehr, was sie tun und klären könnte. Wird es sich klären, fügen, lösen? Wird sie gehalten, getragen werden in Situationen, in denen sie selbst nichts mehr tun kann?

Ich glaube, es hilft, wenn wir uns in diesen Lebensgeschichten und Herausforderungen nicht einfach irgendeinem Zufall überlassen wissen. Es hilft, wenn wir uns ein Gegenüber vorstellen, das sieht, das hört, das sich uns zuneigt. Ich kann nicht zum Zufall beten oder zu den Kräften des Kosmos, die sich auf rätselhafte Weise formen und verschlingen.  Ich kann nur zu einem beten, von dem ich mir vorstelle, dass er mich sieht und hört und sich mir zuneigt. Sich diesem Gott zu überlassen, gerade, wenn wir selbst nichts mehr tun können, dazu hilft das Gebet…

Wer betet, streckt sich vor Gott und zu Gott hin aus. Er wechselt im wörtlichen Sinn die Ebene und sieht anders auf das, was geschieht.

Das "Ach" der Betenden

Alle großen Gebete, die in der Bibel überliefert sind, üben das in ihren Worten ein. Die Klagen der Psalmen münden in ein: Aber Du, Gott…. Alle großen Gebete formulieren das Wissen, dass da etwas ist, jenseits aller Möglichkeiten, die wir sehen. Im Zentrum des Vater Unser verbindet die Bitte, dass Gottes Wille geschehe, Gottes Himmel und unsere Erde.

Aber manchmal gibt es keine Worte mehr. "Ich konnte gar nicht mehr beten", erzählen Menschen, die Schweres erlebt haben. "Ich habe, in all dem, was mir dann durch den Kopf ging, kaum an Gott gedacht, mir sind keine frommen Worte mehr eingefallen, die in dieser Situation noch Sinn gemacht hätten." Viele fürchten dann, dass sie als Christen versagen, dass mit ihrem Glauben irgendetwas nicht stimmt, dass sie den Zugang zu Gott verloren haben.

Ich glaube das nicht. Mein theologischer Kronzeuge dafür ist zweihundert Jahre jünger als der Verfasser des Daniel-Gebetes. Im 8.Kapitel des Römerbriefes schreibt Paulus (Römer 8,26): Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns. Gott selbst betet in uns, wenn wir keine Worte mehr haben. Enger, tiefer können wir in unserer Wortlosigkeit gar nicht mit Gott verbunden sein. Wenn Gott, der Heilige Geist, selbst in uns betet, dann gibt es nichts, was uns von Gott trennen könnte, dann ist Gott uns näher als wir uns selbst sind.

Solche theologischen Gedanken können einen schwindlig machen. Wo ist er denn nun, der Gott, zu dem ich bete? Innen, weil es selbst in mir seufzt und betet? Außen, weil ich staunend seine Größe sehe, im Himmel und auf Erden, weil ich mich zu ihm ausstrecken und vor ihm liegen kann in all dem, was mich im Leben und im Sterben beschäftigt? Vor mir, in mir, über mir, unter mir?

Ich schaue noch mal in das Gebet des Daniel. Da gibt es einen allertiefsten Grund, sich an diesen Gott zu wenden - und der hat nichts damit zu tun, ob Menschen vor ihm ihre Sünden bekennen, ob sie Worte haben und Gesten. Ach, Gott, höre! Ach, Gott, sei gnädig! Ach, Gott, merk auf und handle! Säume nicht - um deinetwillen, mein Gott! Weil Du Gott bist, weil Du dir selbst treu bleibst als barmherziger Gott, deshalb wendest Du dich uns zu. In allem, was wir sagen und nicht mehr sagen können zu dir, hörst Du Dich selbst, Deinen Geist in uns. Wie soll man das noch in Worte fassen? Wie soll man da noch zu Gott reden?

"Gott," so hat ein frommer Mann einmal gesagt, "Gott hat keinen Namen. Der Name ist ein Gefängnis. Gott ist frei." "Wenn ihr ihn aber rufen wollt? Wenn es notwendig ist, wie ruft ihr ihn?", fragt sein Schüler. "Ach!", antwortet der fromme Mann. "Nicht Gott. "Ach!" werde ich ihn rufen."

Daniel, der wortstarke Beter, der für ganz Israel Worte findet, überliefert uns zugleich das allerkürzeste Gebet. Es besteht nur aus drei Buchstaben: Ach! Fünf Mal durchzieht dieses Seufzen sein Gebet: Ach, Gott - und immer wieder: Ach…. Wenn mir alle Gebetsworte entschwinden, wenn mir jede Vorstellung von Gott und jeder der Namen, bei dem ich ihn immer genannt habe, entschwindet, dann bleibt dieses "Ach". Manchmal frage ich mich, ob das reicht. Dann geht mein Blick in das Gebet des Daniel und ich denke mir: Ja, für Gott reicht das. Mein Seufzen, mein Staunen, mein Ach. Mehr brauche ich nicht vor Gott. Mehr braucht Gott nicht von mir.

Ach - und Amen.

 

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.