Herr Frambach, die ganze Bibel besteht doch aus Geschichten des Scheiterns und Wiederaufstehens, oder?

Ludwig Frambach: Richtig, besser gesagt, Scheitern und Neuanfang. Das beginnt schon mit der Erzählung von Adam und Eva im Paradies. Also gleich zu Beginn scheitern die ersten Menschen. Mit der Katastrophe rund um Kain und Abel geht das nahtlos weiter, dann die Sintflut – und wir sind noch gar nicht weit in der Bibel vorangekommen. Das Interessante ist aber, dass es immer weitergeht. Es geht auch oft um menschliche Unzulänglichkeiten und moralisches Fehlverhalten. Beispiel Jakob, der seinen Bruder Esau um sein Erstgeburtsrecht bringt und damit faktisch linkt. Oder König David, der sich die verheiratete Batseba nimmt und deren Mann Uria in den Krieg schickt, in eine tödliche Falle, um ihn loszuwerden. Ein richtiger Mistkerl, dieser David.

Wenn es beim Scheitern nicht um Naturkatastrophen geht, sondern um menschliches Versagen, welche Antworten kennt da die Bibel?

Es muss dann meistens eine Buße folgen. Bei der David-Geschichte schickt dann Gott den Propheten Nathan, der dem König die Geschichte von dem reichen Mann mit vielen und dem armen Mann mit nur einem Schaf erzählt, um das er von dem Reichen gebracht wird. David ist empört und fordert den Tod dieses reichen Mannes. "Du bist dieser Mann", antwortet Nathan. Ein Schock für David, der dann Reue zeigt. Und sein kleiner Sohn stirbt dann als Strafe. Das ist einer der dramatischsten Momente im Alten Testament. Es ist bemerkenswert, dass die Menschen, die an ihrer Unzulänglichkeit scheitern, drastische moralische Fehler begehen, oft zu Helden der Bibel werden, nach ihrer Läuterung. Von daher ist die Bibel ein zutiefst realistisch menschliches Buch. Das Nicht-Gelingen des Lebens, das Scheitern, gehört zum Leben einfach dazu. Wer es wagt zu leben, geht das Risiko ein, Fehler zu machen. Wer es nicht wagt zu leben, hat den größten Fehler schon gemacht.

Die Wandlung "vom Saulus zum Paulus" ist ja eine beliebte Redewendung, die aber doch auch einen Hintergrund des Scheiterns beinhaltet?

Saulus hat die Anhänger Jesu ja vehement verfolgt. Es wird erzählt, dass ihn seine Begegnung mit dem auferstandenen Christus in einer Art Lichtvision völlig aus der Bahn geworfen hat. Bei diesem "Damaskuserlebnis" fällt er vom Pferd und erblindet.

Und gerade dieses Erblinden öffnet ihm paradoxerweise die Augen.

Er wird dann zum Heidenapostel Paulus, der wie niemand anderer das frühe Christentum verbreitet. Petrus, sein Gegenpart unter den Aposteln, ist auch ein Gescheiterter. Er verleugnet Jesus bei seiner Verhaftung, verrät ihn. Und wird dann doch im Verständnis der christlichen Tradition zum Fels, auf dem die Kirche gründet.

Ist Jesus auch gescheitert?

Auf den ersten Blick war es so für seine Anhänger, er starb ja am Kreuz.

Aber Jesus wusste doch, dass ihm sein Weg vorgezeichnet war?

Das kann man nicht mit Sicherheit sagen. Nehmen Sie Jesu Gebet im Garten Gethsemane. Niemand war dabei, trotzdem ist es uns überliefert, was er da im Zwiegespräch mit Gott ausgemacht hat. Und seine letzten Worte "Mein Gott, warum hast du mich verlassen" kann man anders übersetzen. Jesus hat ja aramäisch gesprochen. Übersetzt man den Satz wörtlich, hat er nicht "warum", sondern "wozu" gesagt. "Wozu hast du mich verlassen?" Jesus fragt nach dem Sinn dessen, was jetzt mit ihm passiert; es scheint ihm also nicht klar zu sein. Er ringt mit Gott um den Sinn seines Leidens.

Theologe, Psychologe und Pfarrer - Ludwig Frambach
Ludwig Frambach ist Theologe, Psychologe und Pfarrer. Er organisiert in der Nürnberger Egidienkirche regelmäßig Kunstgottesdienste.

Dann müssen sich seine Jünger auch als Gescheiterte empfunden haben?

Offensichtlich. Das war ja eine euphorische Gruppe rund um ihren religiösen Lehrer – "Guru", könnte man das heute nennen –, und dann passiert so was. Da muss doch das Gefühl aufgekommen sein, die letzten Jahre auf das falsche Pferd gesetzt zu haben, gescheitert zu sein. Aber dann kam an Pfingsten der große Umschwung, der mit den Erscheinungen an Ostern erklärt wird. Das als "Ausgießung des Heiligen Geists" bekannt gewordene Pfingstgeschehen muss ja ein neues euphorisierendes Erleben gewesen sein. Durch dieses Tief heraus geht es also wieder nach oben. Und das ist ein Muster, das wir nicht nur in der Bibel oft erleben.

Inwiefern?

Nehmen Sie Martin Luther. Der war als Augustinermönch in tiefster Verzweiflung, weil er sich unerlöst und verdammt gefühlt hat. Er hat extrem Buße getan, sich kasteit, ständig gebeichtet und ist nicht aus seiner Verfassung herausgekommen. "Die Angst mich zu verzweifeln trieb, dass nichts, denn Sterben bei mir blieb, zur Hölle muss ich sinken", schreibt er 1523 in seinem Lied "Nun freut euch, lieben Christen g’mein".

Wo sehen Sie die Parallelen zwischen dem Scheitern Jesu und dem Luthers?

Dass man an einen Tiefpunkt kommen muss, zu einer Verzweiflung, in der sich alle Wahrheiten und Gewissheiten auflösen. Bei Luther erwuchs in dem Moment die Chance auf eine Befreiung durch seine reformatorische Erkenntnis, dass er von Gott angenommen ist ohne Leistung, sprich "Werke". Danach hat er sich wie neugeboren gefühlt. Das kann man auch an der eigenen Namensgebung ablesen. Vor der Reformation wurde der "Luder" geschrieben. Mein Freund, der Diakon und Mystikforscher Gerhard Wehr, 2015 verstorben, stieß darauf und hat die Änderung des "d" in "th" als Anspielung auf das griechische Wort "Eleutheria" gedeutet, was "Freiheit" bedeutet. Luther fühlte sich nach seiner reformatorischen Erkenntnis als "Befreiter".

Sein Namensverwandter Martin Luther King muss ja Ähnliches durchgemacht haben.

Von ihm ist das sogenannte "Küchenerlebnis" überliefert. King hatte bereits in seinen Zwanzigern als junger Bürgerrechtler in Montgomery einen Boykott organisiert, bei dem Schwarze einfach nicht mehr mit dem Bus fuhren, um auf die Ungleichbehandlung bei den Sitzgelegenheiten hinzuweisen. Als Initiator wurden er und seine Familie dafür massiv angegriffen, es gab sogar Bombenattentate auf sein Haus. Er beschreibt eine Szene in seiner Küche, als er spätnachts, ohne den Kaffee anzurühren, allein darüber nachgrübelte, wie er von der Bildfläche verschwinden könne, ohne als Feigling zu gelten. In diesem Zustand äußerster Mutlosigkeit habe er Gott seine Not hingelegt und im selben Augenblick dessen Gegenwart gespürt. Eine innere Stimme habe ihm Mut zugesprochen, immer an seiner Seite zu sein. Danach war er bereit, allem ins Auge zu sehen.

"Man muss die innere Not, diese Verzweiflung zulassen, bis zum Grund. Dann erfolgt ein Umschlag, eine Umkehr, eine Wende."

Man muss also ganz unten sein, um wieder nach oben zu kommen?

 

Man muss die innere Not, diese Verzweiflung zulassen, bis zum Grund. Dann erfolgt ein Umschlag, eine Umkehr, eine Wende.Das sieht man so in der Gestalttherapie, einem Psychotherapieansatz. Dort spricht man von der "paradoxen Theorie der Veränderung", in der es in einer Sackgasse zu einer Art "Implosion" kommt. Dieses Schema der Strukturdynamik des Befreiungsprozesses aus einer solchen Zwickmühle ist in allen Kulturen unter verschiedensten Menschen im Prinzip gleich. Ich habe das 1993 in meiner Doktorarbeit "Identität und Befreiung" beschrieben und auf die Parallelen zwischen Gestalttherapie, Zen-Buddhismus und christlicher Spiritualität hingewiesen.

Wie kann man diese beschreiben?

Menschen machen einen Fünf-Phasen-Prozess durch. In der Ausgangssituation der "Fixierung" sind wir auf ein bestimmtes Selbstbild festgelegt, das für uns akzeptabel oder schlicht gewohnt ist. Es folgt dann die "Differenzierung", in der verdrängte Hintergründe bewusster werden, und man wird verunsichert und destabilisiert, was zunehmend mit Angst verbunden ist. In der "Diffusion" erlebt man den Verlust von Struktur, wird orientierungslos und fühlt sich wie in einer Sackgasse. Das wird als eine Art von Scheitern erlebt, und das gilt es auszuhalten. Im "Vakuum" hat sich dann die Differenzierung zwischen Vorder- und Hintergrund völlig aufgelöst, man fühlt sich im Nichts, in der Leere, was oft als eine Art Todeserfahrung erlebt wird. Das ist der Wendepunkt. Erst jetzt, wenn sich die alte Struktur ganz aufgelöst hat, ist das Neue, die "Integration" möglich, die mit dem Integrationssymbol Yin/Yang dargestellt werden kann: Eine versöhnte, flexible Polarität ist entstanden, in der die bisher widerstreitenden Aspekte der anfänglichen Dualität integriert sind. So werden z. B. Leben und Tod als eine Gegensatzeinheit, eine Polarität, erfahren. Diese wiedergefundene Mitte nenne ich eine befreite Grund-Identität.

Die Bibel: Arche Noah

Und dieses Prinzip ist demnach ein zutiefst menschliches, fernab äußerer Einflüsse?

Ja, es ist nicht an bestimmte Kulturen und Religionen gebunden. Die Phasen Diffusion und Vakuum sind besonders wichtig für diesen Befreiungsprozess im Blick auf das Scheitern, das ja kein endgültiges Scheitern sein muss, sondern ein Durchgangsstadium. Scheitern kann potenziell immer seelisch und geistig verarbeitet werden und so zu Entwicklung und Reifung führen. Angst und Unsicherheit, ja Zerrissenheit muss man zulassen. Auch wenn das oft wirklich sehr, sehr schwer ist. Es muss sich erst das Alte gänzlich auflösen, wenn Neues entstehen soll. Das beschreiben sämtliche christlichen Mystiker; aber auch im Sufismus, der Mystik im Islam, ist das nachzuweisen. Auch Buddha hatte der Legende nach solche Wendepunkte in seinem Leben, bis er unter dem Bodhi-Baum in der Meditation zur entscheidenden Einsichtserfahrung gelangte. In der Zen-Meditation sucht man mit einer gewissen Methodik, durch innere Krisen zu solchen Wendeerfahrungen zu gelangen. Jesus ist für uns Christinnen und Christen der Prototyp des Gescheiterten und Wiederauferstandenen. Er bittet noch kurz vor seinem Tod: "Lass diesen Kelch an mir vorübergehen." Aber dann: "Dein Wille geschehe." Genau darum geht es: Jesus willigt in sein Schicksal ein. Er öffnet sich dem größeren Willen Gottes. Und er erfährt: Die furchtbare Leere, vor der er ebenso wie alle Menschen Angst hat, letztlich der Tod, erweist sich als fruchtbare Leere.

Das bedeutet, ich muss lernen, mit meinem Scheitern Frieden zu schließen?

Man ändert sich nicht, wenn man nur anders sein will, sondern wenn ich mich meinem Problem stelle, dem Ist-Zustand. Wenn ich beispielsweise Angst habe, muss ich mich mit diesem Zustand auseinandersetzen, ohne Scham oder Ausweichen. Beispiel Höhenangst: Die einzige Möglichkeit, diese zu bezwingen, ist, sich mit Höhe zu konfrontieren. Das nennt man Konfrontationstherapie. Also, rauf in den zehnten Stock und an das Geländer hinstellen, mit therapeutischer Begleitung. Wenn man sich das traut, steigt die Angst bis zu einem gewissen Level, das kaum zu ertragen ist, sogar bis zur Todesangst. Aber dann sinkt sie wieder. Wenn solche Menschen ein paar Mal erleben, dass nichts geschieht von dem Befürchteten, dann können sie frei werden von ihren Ängsten.

Man könnte sogar sagen, wenn wir uns als Menschen weiterentwickeln wollen, dann sollten wir uns immer mit dem konfrontieren, mit dem auseinandersetzen, vor dem wir Angst haben.

Aber das ist natürlich leichter gesagt als getan.

Man kann aber auch einfach solchen Situationen aus dem Weg gehen.

Natürlich, wenn einen ein Problem nicht stärker im Leben tangiert und behindert. Aber viele wünschen sich auch, solche Phobien und Zwänge zu überwinden, wenn sie einem regelmäßig begegnen. Und es kann dann auch richtige Erfolgsgeschichten geben. Ein Arzt und Psychotherapeut hat mir einmal erzählt, dass er in seinen jungen Jahren stark gestottert hat. Er wollte zur Zeit der Studentenbewegung Ende der 1960er-Jahre in Berlin für einen Posten in der studentischen Vertretung kandidieren. Dafür musste er eine kurze Vorstellungsrede halten, bei der er, wie befürchtet, gestottert hat. Die Hörerschaft, 5000 Studenten, ist in schallendes Gelächter ausgebrochen. Schlimmer konnte es nicht kommen. Aber was geschah? Er bekam die meisten Stimmen bei der Wahl. Sein Mut wurde honoriert. Und von da an wurde es mit seinem Stottern ziemlich schnell immer besser. Es war nicht schlagartig weg. Aber er sagte sich, was soll mir noch Schlimmeres passieren.

Wenn Sie Menschen, die mit ihren Geschichten des Scheiterns an Sie herantreten, solche Begebenheiten erzählen, dann können Sie sie dadurch praktisch heilen?

Nein, das wäre zu schön, um wahr zu sein. Aber man kann Mut machen. Ich kann die Menschen durch solche Beispiele bewegen, sich näher mit sich auseinanderzusetzen, und Hilfestellungen geben. Letztlich muss den Weg aber jeder alleine gehen. Wie gesagt, Scheitern gehört zum Leben. Gerade aus recht verstandener religiöser und christlicher Sicht. Es geht im Grunde darum, aus persönlichem Scheitern zu lernen, es anzunehmen und einzugestehen. Das macht uns offener, mitfühlender und mit einem alten Wort, das jetzt wieder öfter zu hören ist, demütiger. Aus gründlich und ehrlich verarbeitetem Scheitern erwächst eine gesunde Demut. Und ein neuer Mut.

THEMA: Scheitern und Neubeginn

Die Bibel bringt Scheitern und Neubeginn in allen Facetten zur Sprache. Sie erzählt von Menschen, die an ihrem Tiefpunkt noch eine Zukunft haben. Diese Linie zieht sich durch die Biografien der Bibel vom Paradies bis zur Sintflut und bis zu Jesus, den Gott aus dem absoluten Tiefpunkt, dem gänzlichen Scheitern im Tod, zum Leben erweckt.

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