Ein einziges Mal habe ich ihn in echt spielen sehen. Da war ich dreizehn, und mir stand der Mund offen. Daraufhin beschloss ich, niemals wieder nach einem Fußball zu treten. Franz Beckenbauers Eleganz und seine Leichtigkeit machten mich fassungslos. Für den schwerfüßigen Halbbegabten wirkte der Kaiser wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Der ehemalige Trainer der schottischen Nationalmannschaft, Andy Roxburgh, sagte über ihn:

"Wenn Beckenbauer aus dem Fenster fällt, fällt er nach oben."

Wir Normalsterblichen dagegen fallen mehr denn je nach unten. Noch nie in der jüngeren Zeit war die Schwerkraft so groß wie in diesem Winter. Die Menschen sind müde und mürbe, angeschlagen und dünnhäutig, ausgebrannt und gereizt. Vor allem aber sind sie krank. Eigentlich sind alle krank, mit denen man spricht. Kurz vor Weihnachten fand ich meine Studierenden zu Beginn einer Vorlesung im Seminarraum unter den Tischen liegend vor.

Ich fragte sie: "Was ist denn mit Ihnen los?" Sie sagten: "Keine Ahnung. Wir sind einfach fertig."

Über die Gründe der grassierenden Erschöpfung kursieren mittlerweile zahllose Theorien. Ganz überzeugen sie mich alle nicht, weil sie den Blick selten nach oben richten, also dorthin, wohin der Franz im Glück am Ende ja vielleicht tatsächlich gefallen ist. Am Ende hängt die Müdigkeit vieler Zeitgenossen ja damit zusammen, dass sie von nichts anderem als vom sogenannten Boden der Tatsachen wissen und womöglich auch von nichts anderem wissen wollen. Am Ende nimmt die Erdenschwere derzeit ja deshalb so zu, weil wir transzendental immer obdachloser werden und uns an die Alternativlosigkeit einer Horizontalen gekettet erleben, in der wir mit Erschrecken feststellen, dass es aus ihr kein Entrinnen und in ihr kein Vor und kein Zurück gibt.

Wie gehen wir mit Kipppunkten um?

Seit Jahren sehen wir nahezu täglich, wie sich die Weltlage zum Haarsträubenden und zum Halszuschnürenden verändert. Ein Kipppunkt nach dem anderen wird überschritten. Der Knoten zu einem möglichen Dritten Weltkrieg schürzt sich. Die Biosphäre ächzt. Nichts ist mehr selbstverständlich. Selten zuvor war die Zukunft so unsicher wie gegenwärtig. Ständig hören wir, dass es nicht mehr so weiter geht, dass wir uns in einer Zeitenwende und inmitten einer Großen Transformation befinden und dass alles anders werden muss.

Fast alle, die aus den Medien heraus zu uns sprechen – egal welcher politischen Couleur – behaupten, die Lösung zu kennen und die Antwort zu haben. Aber sie haben die Antwort nicht.

Niemand hat sie. Keiner kennt die Lösung. Und genau das spüren wahrscheinlich viele von uns am eigenen Leib und an der eigenen Seele. Und weil wir es spüren, spüren wir nicht nur, dass die Vergangenheit gekappt ist.

Wir spüren auch, dass die Zukunft immer bedrohlicher wird. Und so kommen uns die erhebenden und motivierenden Perspektiven abhanden. Wir brennen aus und fallen in uns zusammen. Man könnte dieses Phänomen einer auf Dauer gestellten Verunsicherung mit einem Begriff des Literaturwissenschaftlers Magnus Klaue als Liquidierung von Normalität und von Kontinuität beschreiben. Für das innere Gleichgewicht von Individuen und von sozialen Gefügen ist diese Liquidierung lebensbedrohlich.

Angesichts all dessen bin ich ziemlich froh, dass ich ein Kind Gottes und ein Christ bin. Ich bin froh, dass ich und hin und wieder in einem Kirchenraum sitze, stehe und kniee.

Wo sonst, wenn nicht in meinem Glauben und in in der Nähe des auferstandenen Gekreuzigten könnte mich die Gewissheit erfüllen, dass ich nicht mit der Horizontalen meines Lebens und mit der Schwerkraft der Erde allein, sondern aus der Vertikalen heraus, also vom Himmel her gehalten bin. Wo sonst, wenn nicht in meinem Glauben und in meiner Kirche könnte ich spüren, das ich nicht nach unten, sondern nach oben falle, wenn die Welt auf die schiefe Bahn gerät und Politik und Gesellschaft das Gleichgewicht verlieren.

Der Kaiser ist tot. Aber der Heiland, der wahre Herr der Leichtigkeit, lebt. Gott sei Dank. Nehmen wir uns und die Welt also nicht so schwer. 
 

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