Im Kampf gegen Krankheiten gilt die evidenzbasierte Medizin mit ihren Studien und Statistiken heute als Goldstandard. Weit davon entfernt wahrgenommen werden Kirche, Religion und Glaube. Das war nicht immer so. "Das Narrativ, dass Kirche der wissenschaftlichen Medizin feindlich gegenüberstand, stimmt nicht", schreibt Tobias Niedenthal in seinem Aufsatz "Und die Seele ist mächtiger als der Körper… Die Epoche der Klostermedizin, ihre Vorläufer und Nachwirkung". Der Aufsatz ist jetzt in der Zeitschrift "Ordenskorrespondenz" (Heft 1/2022) erschienen.

Sind Glaube und Wissenschaft wirklich unvereinbar?

Anhand von historischen Beispielen widerlegt der Mitarbeiter der Forschergruppe Klostermedizin an der Universität Würzburg die Annahme, dass sich Glaube und Wissen per se wie zwei unvereinbare Pole verhalten hätten. "Viele Bischöfe praktizierten nebenbei als Ärzte", sagt Tobias Niedenthal dem Sonntagsblatt. So gründete der ehemalige römische Soldat Martin von Tours im Jahr 361 nach Christus in Frankreich das erste abendländische Kloster. Der als "Mönchsbischof" Verehrte verfügte über medizinisches Wissen und wirkte als Pfleger, Fürsorgender und Arzt.

Die Religion bestimmte in allen Kulturen über Jahrhunderte das Weltbild. Krankheit ist eines der großen Lebensthemen, mit dem sich Menschen auseinandersetzten. Zahlreiche Hinweise darauf liefert die Bibel: Die Plagen im Alten Testament etwa interpretieren Krankheit als von Gott auferlegte Last. Das Neue Testament berichtet von Heilungsgeschichten, so etwa der Heilung der Schwiegermutter von Petrus durch Handberührung in Kapernaum oder der Heilung eines Gelähmten durch Vergebung von Sünden.

Historische Beispiele widerlegen Gegensätzlichkeit

Gerade dem Evangelisten Lukas werde in der Literatur eine "metaphorisch medizinische Sprache zugeschrieben", weiß Tobias Niedenthal. "Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken", zitierte das Deutsche Ärzteblatt den Evangelisten Lukas und betonte damit die Tradition religiöser Heilkunde bis heute.

Das medizinische Wissen der Griechen und Römer fand 630 nach Christus unter anderem Eingang in die 20 Bände umfassende "Etymologiae" des Spaniers Isidor von Sevilla. Die Enzyklopädie, die neben Medizin auch Landwirtschaft und Heilpflanzen behandelte, war im lateinisch geprägten Mittelalter Grundlage für die Weitergabe mediterranen Medizinwissens bis nach England.

Eines der ältesten Bücher, in die dieses Wissen einfloss, ist das "Lorscher Arzneibuch" aus der Zeit um 800 nach Christus, welches seit 2013 UNESCO-Weltdokumentenerbe ist. Heilkunst, Rezepturen und Ernährungslehre in Theorie und Praxis sind hier erstmals systematisch erfasst und niedergeschrieben. Niedenthal spricht von einem "fachkundigen Rahmen für fünf Rezeptsammlungen mit insgesamt 482 Rezepturen".

Hildegard von Bingen ist das beste Beispiel für Klostermedizin

Weniger systematisch als vielmehr poetisch beschrieb der Abt der Reichenau am Bodensee, Walahfrid Strabo, in einem Kräutergedicht 24 Heilpflanzen. Ein Teil der beschriebenen Pflanzen findet man im "St. Galler Klosterplan" wieder, der im 9. Jahrhundert auf der Reichenau entstand und bis heute als Idealbild eines Benediktinerklosters gilt. Die medizinischen Einrichtungen bilden mit Kapelle, Bad, Küche, Ärztehaus und Lagerraum für Medikamente - Apotheke - sowie einer Art "Intensivstation" für Schwerkranke sowie einem Kräutergarten eine eigene Einrichtung innerhalb des Klosters.

Eine der bekanntesten Vertreterinnen der Klostermedizin war Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert. Ihre Schriften sind heute als Naturkunde "Physica" und Heilkunde "Causae et Curae" bekannt. Nicht wegzudenken aus der heutigen Naturheilkunde ist auch Pfarrer Sebastian Kneipp aus dem 19. Jahrhundert. Die Fünf-Säulen-Therapie des oberschwäbischen Priesters erfreut sich nach wie vor vieler Anhänger.