Das ehemalige mittelalterliche Pilgerspital St. Martha ist der ideale Ort für einen Vokalspaziergang. Nicht nur, weil das Haus mitten in Nürnberg, das seit 1800 Kirche der evangelisch-reformierten Gemeinde ist, innen ganz schlicht gestaltet ist und keinerlei Ablenkung bietet.
Sondern auch, weil die Kirche seit der Wiedereröffnung nach dem Brand vom 5. Juni 2014 über eine noch bessere Akustik verfügt als zuvor. Dafür sorgen die höher eingezogene Decke und die diagonal angeordneten Holzelemente, die sowohl schallabsorbierend als auch schallreflektierend sind.
So ist ein besonderer Klangeffekt entstanden, sowohl für Solisten und Chöre als auch für Instrumentalisten.
"Man findet vom hölzernen mobilen Ambo aus besonders Gehör auf Augenhöhe mit der Gemeinde", sagt Pfarrer Dieter Krabbe. Er könne sich eigentlich auch ohne Mikrofon verständlich machen, "zumindest akustisch. Den Rest muss ja der Heilige Geist übernehmen, sonst ist doch all unser Reden für die Katz."
Daher auf zum Gesang: "Ich glaube, hilf meinem Unglauben" lautet die Jahreslosung 2020, und Sängerin und Kursleiterin Heike Kiefer hat einen hebräischen Text und eine uralte Melodie mitgebracht, die genau das aussagen.
Der Tonverlauf ist nicht ganz einfach zu merken, aber mit Vorsingen der einzelnen Teile und rhythmischer Unterstützung durch einen durchgängigen Viervierteltakt, geklopft auf den Schenkeln der Besucher, kriegt die Musiklehrerin die harmonische Linie schnell in die Köpfe der rund 20 Sänger, die diesmal dabei sind.
Das macht Spaß, die Seele frei und den Körper weit.
"Legen Sie jetzt mal eine Hand auf den Bauch, die andere um den Rücken, atmen Sie tief ein und aus und fühlen Sie, wie sich Ihr Körper weitet", gibt Kiefer vor. Danach sucht sich jeder einen Ton, lässt den Luftstrom auf dem Vokal "O" gleichmäßig durch die Stimmbänder fließen.
Ein unruhiges Brausen entsteht, wie man es an einer Efeu-Ranke an einem alten Haus hört, wenn die Bienen darin summen. Doch bis man vom "A" weiter zum "U" gelangt, hat sich die Gemeinde, deren Mitglieder noch nie miteinander gesungen haben, von der Dissonanz hin zu einem Gleichklang eingepegelt.
Im Kirchenraum ist durch den Gesang Gemeinschaft entstanden.
Das will Heike Kiefer ausnutzen und lässt im Gesangbuch einen vierstimmigen Choral aufschlagen - und studiert mit den warm gewordenen Sängern alle vier Stimmen ein, lässt ihn sogar im Kanon singen. Für viele war's das erste Mal. Mit neuem Mut zur eigenen Stimme geht es nach draußen, in den Hinterhof der Marthakirche, die ganz nahe am geschäftigen Trubel Nürnbergs steht und doch eine Oase der Ruhe bietet.
"Ich singe dir mit Herz und Mund", der Choral hat stolze 17 Strophen. Elf davon lässt Heike Kiefer singen, ab der vierten animiert sie dazu, die Arme in der Luft kreisen zu lassen und sich ganz dem frisch gefundenen Rhythmus der Gruppe hinzugeben. Ab der siebten Strophe improvisieren die Sänger über die eingängige Melodie eigene Stimmen. Es entsteht ein fliegender Vielklang. Und beinahe meint man, beim Gesang ein bisschen vom Boden abzuheben.
Singen wurde in zwei Stunden zur Körpererfahrung.
Dazu gab es ein bisschen Kirchengeschichte und ein wenig Bewegung. "Viele Menschen haben nicht mehr die Zeit, im Chor zu singen, würden das aber gerne hin und wieder in der Gruppe tun. So sind einmal die Vokalspaziergänge entstanden. Heute sind sie viel mehr", ergänzt Susanne-Katrin Heyer, Studienleiterin bei der evangelischen Stadtakademie Nürnberg.
Immer wieder sind andere Kirchen an der Reihe, die auf diese Weise mit anderen Sinnen als üblich erfahren werden können. Und ein Stück weit entdecken die Sänger dabei ja auch eine neue Seite an sich selbst.