Es ist ein strahlender Sommersonntagmorgen. Die Luft ist noch kühl, aber es beginnt im Stadtwald schon nach der kommenden Wärme des Tages zu duften. Vom nahen Hockeyplatz und den Tennisplätzen etwas weiter weg dringen Ballwechsel und johlende, glückliche Laute an mein Ohr.
Ich jogge. Natürlich gehört es sich für einen Pfarrer eigentlich nicht, am Sonntagfrüh laufend Ersatzgottesdienste im Grünen zu feiern. Es sei denn, es wären keine Ersatzgottesdienste, sondern gewissermaßen Warm-ups für den folgenden Kirchgang. In meinem Fall handelt es sich allerdings nicht um ein Fremdgehen in den Schoß der Naturgottheit. Ich bin vielmehr im Auftrag des Herrn unterwegs, weil es sich bei meinem Gang ins Grüne um eine hochtheologische Feld- oder besser gesagt Waldstudie handelt. Herausfinden will ich dabei, ob die Menschen, die am Sonntag ihr Heil nicht im Gottesdienst, sondern in der Flucht in den Wald suchen, zumindest den Anschein erwecken, als seien sie glücklicher und als lebten sie erfüllter. Eigentlich bin der Untersuchungsgegenstand dieser Studie auch ich selbst, also ein weltlicher Mensch auf der Suche nach geistlicher Heimat.
Begegnungen im Wald: Zwischen Ignoranz, Fitnesswahn und stiller Beobachtung
Ich beobachte, wie es sich für eine solche Studie gehört, empirisch. Eine junge Frau führt zwei Hunde aus. Meinen Gruß erwidert sie nicht. Damit habe ich mich abgefunden in den grünen urbanen Biotopen unserer Republik. Man liebt dort zwar die Menschheit, aber nicht den Menschen. Und so bedankt man sich weder, wenn man beim Autofahren auf schmaler, zugeparkter Straße aus Rücksicht durchgelassen wird. Und grüßt sich schon gleich gar nicht, wenn man mutterseelenallein im Wald unterwegs ist. Dabei war der Gruß von je her eine zutiefst humanisierende Geste, mit der Exemplare des Homo sapiens einander ihrer Friedfertigkeit versicherten. Wenn Menschen sich begegneten auf einsamer Flur, dann hoben sie von je her die Hand zum Gruß und gaben damit einander zu verstehen: "Bitte töte mich nicht." Et vice versa: "Keine Angst! Ich töte dich nicht. Meine Hand ist leer. Ich trage keine Keule bei mir."
Offenbar steht es aber zwischenzeitlich nicht nur in Stadtwäldern in bevorzugter Wohnlage eher schlecht um die Humanisierung. Ich traue mich jedenfalls nicht, die junge Frau, die mir federnd entgegenkommt, freundlich grüßend anzulächeln, weil das möglicherweise als übergriffiges Verhalten empfunden werden könnte. Der Grat zwischen der Freude über Freundlichkeit und der erklärten Entschlossenheit, keinen Spaß zu verstehen, wird schmaler. Wenn aber jeder unschuldigste Ausdruck des Wohlwollens und selbst ein Sekundenhauch des mimischen Flirts als Vorstufe zur Vergewaltigung interpretiert wird und das dionysische Spiel dem apollinischen Ernst und die lebensbejahende Arglosigkeit einem allgegenwärtigen Verdacht gewichen sind, offenbart das das ganze Elend des Homo sapiens in einer Gegenwart, in der es augenscheinlich nichts Harmloses mehr geben darf. Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Dann zwei Jogger. Silver Ager in bester Verfassung. Sie unterhalten sich angeregt, wahrscheinlich, um einander und natürlich auch mir, der schweißtriefend sich dahinquälenden Pflunze, zu zeigen, wie fit sie sind, während sie mich locker überholen und dabei verbal nonchalant mit Immobilien und Millionen jonglieren. "Ich hätte das Bootshaus in San Francisco nicht verkaufen sollen!", höre ich den einen noch sagen, bevor er aus der Hörweite verschwindet.
Tesla-Moral und Porsche-Scham: Reflexionen eines joggenden Pfarrers
Die nächsten, die mir begegnen, sind eine junge Frau und ein junger Mann. Ob sie zusammen gehören, weiß kein Mensch, vielleicht nicht einmal sie selbst. Sie sehen geradezu unheimlich nach Bio-Werbung aus. Ihr bewusster, hochdisziplinierter Ernährungs- und Lebensstil quillt ihnen aus allen Poren. Ich male mir aus, wie ihr Vormittag weitergeht. Er riecht nach gesundem Smoothie, Müsli, achtsamem Sex und viel Me-Time danach. Ich sehe sie in ihren doppelt selbstgerechten Tesla einsteigen, der so lange gut war, bis Elon Musk böse wurde, aber jetzt wieder gut sein muss, damit seine Besitzer nicht als moralisch fragwürdig dastehen. Daher prangt auf ihm mittlerweile vermutlich wie auf vielen anderen seiner Stallgenossen der Selbstreinwaschungsaufkleber: "Tesla hui, Elon pfui!" Oder: "I bought this before Elon went crazy." Ich habe meine Frau inständig darum gebeten, "I bought this before Elon went crazy" auf den Tankdeckel unseres fetten Verbrenner-Porsche-SUV kleben zu dürfen. Sie hat es mir verboten. Das sei pubertär, sagt sie. So pubertär wie die, die immer moralisch im Recht sein müssen, sage ich. (Oder wie die, die Porsche-SUVs fahren.) Aber es hat keinen Sinn. Frauen haben fast immer recht.
Dann eine drahtige ältere Dame. Äußerst gepflegt. Ihr Parfum hängt noch nach fünfzig Metern in der Luft. Wahrscheinlich eine Ärztin. Wenn man sich in der Siedlung, in der ich wohne, den Fuß verknöchelt, kriechend zu irgendeiner Haustür robbt und klingelt, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die Tür von einem Orthopäden geöffnet wird, bei etwa 90 Prozent. Ein wenig wirkt diese unbeugsame Riefenstahleske Erscheinung aus der Landschaft gefallen. Derlei begegnet einem eher im oberen Engadin, wo schon Normalgewichtige fettleibig wirken.
Am Ende der Strecke dann doch noch ein Lichtblick: Eine Art Schweißbruderschaft. Ein schwitzender hemdsärmeliger Franke ruft seinem Artgenossen schon von weitem, als wäre es völlig selbstverständlich, ein lautes "Servus!" zu. So etwas beglückt mich ja immer zutiefst. Nichts verbindet Menschen so sehr wie das gleiche dialektale Idiom, zumal dann, wenn sie einander in der Fremde begegnen - und sei es die Fremde des Stadtwalds meiner Heimatstadt, die meine Heimat nicht ist. Der gemeinsame Dialekt macht aus zwei oder drei Franken, die einander zuvor noch nie begegnet sind, eine nahezu gottesdienstliche Gemeinschaft.
Aber zurück zum Zweck meiner Waldstudie. Ich habe den Eindruck, dass keiner der Menschen, die ich an diesem Sonntagvormittag im Wald getroffen habe, einen Gottesdienst zu brauchen scheinen. Also einen Gottesdienst zusätzlich zur gehenden, walkenden oder joggenden Verehrung der inneren und äußeren Natur. Wahrscheinlich tue ich allen unrecht, an denen ich heute morgen vorbeigelaufen bin. Solche phänomenologischen Feld- und Waldstudien haben ja ihre Grenzen. Trotzdem werde ich den Eindruck nicht los, dass die meisten, denen ich an diesem Vormittag begegnet bin, sich selbst und ihrem Programm der Intensivierung ihres fitten und achtsamen Lebens genügen. Sie vermissen nichts darüber hinaus. Manchen scheint ihr Waldvormittag sogar Spaß zu machen. Und so wäre es wahrscheinlich böse, diesen Vormittagen eine reformierte Gesetzlichkeit der zusammengebissenen Zähne oder kantianische Selbstquälerei zu unterstellen. Was die zusammengebissenen Zähne anbelangt, so strahle ich, der ebenso untrainierte wie unvegane biertrinkende und leberwurstessende Lutheraner das Gequältsein der schlechtkonditionierten Kreatur zweifellos weit mehr aus als die Leichtgängigen, auf die mein ja doch irgendwie neidischer analytischer Blick fällt.
Und vielleicht ist es ja tatsächlich hier wie anderswo so, dass sich die mutmaßliche Gesetzlichkeit der Outdooranstrengungsfreizeitgesellschaft nicht gerade im Flug, aber doch beim Waldlauf in eine Art Einssein mit sich selbst und der Natur, also in eine Art seliges Leben verwandelt. Wenn es so wäre, dann könnte man sagen: "Was will man mehr. Alle sind sie ihres Glückes Schmied. Es sollen alle selbst entscheiden, wie und wo sie am Sonntagmorgen glücklich werden. Jeder nach seiner Façon. Was sollte der Schöpfergott dagegen haben, wenn seine Geschöpfe ihre Gottesdienste aus der sichtbaren Kirche in die Natur auslagern und dort gewissermaßen eine Art Schöpfungsdank feiern, auch wenn sie gar nicht wissen, dass sie es tun. Außerdem ist doch alles in bester biodiverser humaner Ordnung. Der allgemeine Wohlstand im akademikergesättigten Stadtwald trägt das Seine dazu bei. Niemand überfällt den andern. Auch die, die sich nicht grüßen, rammen einander nicht von hinten unversehens die Messer in den Rücken. Alle gehen sie friedlich, achtsam, ohne jemanden zu behelligen und zweifellos höchst gesund ihrem mehr oder weniger singulären sonntäglichen Tagwerk nach. Keiner von ihnen gehört zu denen, denen der scharfe Blick über die Brille eines Hausarztes sagen müsste, nun sei es aber höchste Zeit, den Ernährungsstil und das Bewegungsverhalten umzustellen und mit dem Rauchen und Schweinefettessen aufzuhören, um Gevatter Tod noch ein paar Jährchen abzutrotzen. Oder anders gesagt: alle sehen sie so aus, als hätten sie diesen scharfen ärztlichen Blick längst aus Einsicht internalisiert. Alles gut also. Man muss sich keine Sorgen machen um diese Stadtwaldwelt. Vor allem nicht um die, die am Sonntagvormittag nicht in den Gottesdienst gehen. Sie tun das, was ihnen selbst der kirchliche Zeitgeist seit Jahrzehnten zuflüstert, nämlich das Leben achtsam und nachhaltig und natürlich gesund am Busen von Mutter Natur zu genießen. Wald macht bekanntlich gelassen und beruhigt, wenn er noch nicht der verheerenden Trockenheit zum Opfer gefallen ist und sich keine Fichten blicken lassen, die durch ihre dürre Existenz mittlerweile zu einem Memento Mori geworden sind.
Was sie außerhalb des Waldes tun, diese Menschen, die ich nicht kenne, kann ich nur ahnen. Aber ich vermute, sie gehen höchst seriösen, der ökosozialen Gerechtigkeit und irgendwie auch der Family of Man, den Menschenrechten und der Zukunft des Planeten verpflichteten Tätigkeiten nach, und sei es nach der Arbeit. Ich dusche, frühstücke, freue mich aufrichtig, die maroden Knochen bewegt und den Tag noch vor mir zu haben.
Was fehlt, wenn scheinbar nichts fehlt?
Aber irgendwie machen mich diese Vormittage auch ein wenig traurig. Nicht, weil ich auf ihrem Grund so etwas wie eine tiefe transzendentale Obdachlosigkeit spüren würde. Es wäre gemein, pfäffisch und hinterhältig, diese transzendentale Obdachlosigkeit Menschen anzudemonstrieren, die das mit ihren freien Wochenenden machen, was sie nun eben einmal mit ihnen machen. Habe nicht auch ich als Jugendlicher wie ein Irrer am Sonntagvormittag Tennis gespielt? Es wäre daher unredlich, ihnen, die wahrscheinlich wirklich keine Religion, keinen Gott und schon gar keine Kirche brauchen, einzureden, dass sie womöglich doch etwas vermissen, von dem sie gar nicht wissen, dass sie es vermissen.
Traurig macht es mich dennoch. Denn ich spüre, dass zumindest mir an diesem Vormittag im Stadtwald etwas fehlt. Etwas, das ich leider auch nach fast vierzig Jahren Theologie und nach fünfundzwanzig Jahren Pfarrersein nicht anders beschreiben kann als das ganz Andere, das Andersweltliche, das im Himmel Geerdete, der der Zeit und der Welt entrückte Ort. Eine Kirche, die nicht im Herzen, sondern an den Rändern steht. Also dort, wo auch eine Kirche, die im Herzen der Stadt steht, stehen sollte. Weil sie nicht von dieser Welt ist. Zumindest nicht ganz. Sondern mit den Zeigefingern ihrer Türme in den Himmel weist. Türme, die große Fragezeichen sind. Ausdruck der großen Sehnsucht nach etwas oder vielmehr nach jemandem, der in dieser Welt fehlt. Und große Ausrufezeichen. Ausdruck der Erkenntnis, dass die Welt gerettet ist. Dem Heiland sei Dank.
Am Abend desselben Sonntags fahre ich hinaus aufs Land. Jaja, ich weiß. Mehr als fünfzig Kilometer mit dem Verbrenner. Die Jogger am Sonntagmorgen brillieren im Gegensatz zu mir auch noch dadurch, dass sie nicht nur an ihrem Body-Mass-Index arbeiten, sondern auch ihren CO2-Ausstoß minimieren, also in mehrerlei Hinsicht Gutes tun und gut sind. Ich dagegen freue mich unverschämterweise an den Kurven, am unanständig lauten Motorengeräusch in meinem Rücken und an dem leider nicht grünen, aber dennoch allernachhaltigsten Inbegriff deutscher Automobilbaukunst, der nun schon fast fünfzig Jahre auf seinem zitronengelben Buckel hat und in dem ich gerade unterwegs bin.
Einladung ins Kirchlein
Irgendwo auf dem Jura steht in einem Dörfchen, das für die Stadtwaldjogger als Ausbund hinterweltlerischer Provinz gelten dürfte, eine alte evangelische Kirche. Mitten unter den Bauernhöfen, neben den Silos und am Rande der Felder. Ich weiß nicht, wie sportlich die Menschen sind, denen ich hin und wieder in diesem seit Jahren von mir aufgesuchten Dörflein begegne. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass die ersten beiden, die ich vor einigen Jahren dort oben angesprochen habe, absurderweise Kirchenvorsteher waren. Das Kirchlein ist sonntags immer offen, weil das Mesnerehepaar, das neben der Kirche im ehemaligen Pfarrhaus wohnt, es immer offen hält. Unabhängig davon, wie viele oder wie wenige den Weg in das Kirchlein finden. Es ist also eine derjenigen evangelischen Dorfkirchen, in die man sich einfach hineinsetzen und für sich Andacht halten kann, ohne dass irgendjemand bisher auf die inflationäre Marketingidee gekommen wäre, daraus einen "Kraftort" machen zu wollen. In dem Kirchlein riecht es, wie es in einem Gotteshaus ohne Weihrauch eben riecht. In einem Gotteshaus, das da seit Jahrhunderten steht. Unspektakulär und ungerührt. Und hoffentlich unzerstörbar und von keinem noch so miserablen Zustand der künftigen Kirche ernsthaft anzukränkeln. Ja, die Kirchengemeinde und das Kirchlein scheinen ihre beste Zeit hinter sich zu haben. Ja, das Geld fehlt, aber glücklicherweise wird das fehlende Geld hier durch eine geerdete, bodenständige, leidenschaftslose und dennoch himmlische Liebe zu diesem Gotteshaus kompensiert.
Aus dem naiv naturalistischen, anspruchslos anspruchsvollen Altarbild heraus, das der damalige Pfarrer im Jahr 1985 gemalt hat, kommt mir ein wilder bärtiger Auferstandener entgegen, der über der Landschaft des Dorfes, in dessen blühende Kirschbäume der Maler ihn hinein gemalt hat, geradezu zu schweben scheint. Wie eine Art rauer Geist dieser Landschaft und vielleicht aller Landschaften des ehedem christlichen Abendlands diesseits von Rom.
Ich zünde die Osterkerze an und setze mich hin. Ein bisschen ist mir nach Knieen an diesem Abend, aber Sitzen ist auch gut. Drinnen brummen die Fliegen gegen die Scheiben. Draußen zwitschern die Vögel und picken die Hühner. Meiner Frau sind einmal, als hätten sie in ihr den Heiligen Franz von Assisi wiedererkannt, sechs getigerte Katzen auf Arme und Schultern geklettert, während sie vor der Kirche auf einem Mäuerchen saß. Da, in dieser weltverlorenen evangelischen Kirche in einer weltverlorenen, aus der Zeit gefallenen fränkischen Landschaft sitze ich also. Ich spüre das Holz der Kirchenbank und den Steinboden unter mir. Ich spüre den Himmel über mir. Ich spüre die Jahrhunderte. Und ich spüre, dass die Wurzeln dieses Kirchleins tiefer hinab in die Vergangenheit reichen als ihre eigene steinerne Geschichte. Ein wenig spüre ich auch die Toten, die in dem Friedhof liegen, der die Kirche umgibt. Ich spüre das Leben und das Sterben der jungen Toten und der älteren. Der Kinder und die Greise. Ich spüre den Alltag der Menschen und dessen unselbstverständliche Selbstverständlichkeit. Ich spüre das Kommen und Gehen der Generationen. Und ich denke in der Stille dieses Abends an Franz Kafkas rätselhaften Satz: "Die scheinbare Stille, mit welcher die Tage, die Jahreszeiten, die Generationen, die Jahrhunderte aufeinanderfolgen, ist ein Aufhorchen; so traben Pferde vor dem Wagen."
Ich habe schon ein paarmal in diesem Kirchlein Gottesdienst gefeiert. Beim ersten Mal – es war ein Freitagabend im Mai – rechnete ich nicht damit, dass mehr als zehn Menschen kommen würden. Aber die Kirche war voll. "Ja", werden Sie jetzt denken, "jetzt träumt er sich hinaus, der gegenwartsverdrossene Ewiggestrige, aus der Stadt aufs Land, aus der komplexen Realität in eine vermeintlich einfachere vergangene Zeit, die nie so war, wie er sie gerne hätte und wie er sie sich ausmalt und sie verklärt."
Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen bleibt
Mag sein, dass das stimmt. Mag sein, dass ich tatsächlich auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder besser gesagt nach einer verlorenen Welt bin. Nach einer Wirklichkeit, die es nicht mehr gibt, weil es sie nie gab. Aber die Wirklichkeit, die es nie gab, ist ja vielleicht die allerwirklichste, weil allersehnsuchtsgesättigtste. Ich jedenfalls höre nicht auf, mich nach ihr zu sehnen. Nach jener ganz anderen Wirklichkeit, die aus der Höhe und aus der Tiefe diejenigen Fleckchen Erde adelt, die dann so etwas wie heilige Orte werden. Und ich schäme mich dieser Sehnsucht nicht; denn diese Sehnsucht ist das Wesen aller Religion, aller Theologie und nicht zuletzt des christlichen Glaubens an den auferstandenen Gekreuzigten, der mir aus dem Altarbild entgegenkommt. Es ist die Sehnsucht, dass das, was ist, nicht alles ist.
Und so sitze ich hier in diesem Kirchlein in the middle of nowhere, mache das, was man in the middle of nowhere als geistlich empfänglicher, dünnhäutiger Mensch eben so macht, nämlich eine mystische Erfahrung, und weiß, dass das hier etwas ist, was es im Protestantismus eigentlich nicht geben darf: ein heiliger Ort nämlich. Und dass das hier ein heiliger Ort ist, weiß ich deshalb, weil ich zur Ruhe komme, wenn ich hier sitze. Und ich weiß es auch deshalb, weil ich überdeutlich spüre, dass ich hier mit einer Landschaft, mit einer Geschichte, und mit dem Glauben und den Sorgen der unzähligen Menschen verbunden bin, die hier in den letzten Jahrhunderten gesessen sind und ihrem Gott und einander ihr Herz ausgeschüttet haben. Hier ist sie, die uralte unsichtbare Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen, die für mich in keinem Stadtwald der Welt, aber in diesem Kirchlein auf dem Land zu spüren ist. In diesem Kirchlein, in dem man ahnt, dass man nicht nur deshalb zusammengehört, weil einen die Scholle und der Dialekt oder irgendeine Tradition verbindet, sondern auch deshalb, weil man in einer Wirklichkeit wurzelt, die größer und tiefer ist als jede andere Wirklichkeit und jede andere Gemeinschaft von Menschen. Auch dieses Dorfkirchlein steht wie die gesamte Kirche Jesu Christi zwischen Himmel und Erde auf dem Boden der Tatsachen. Zugleich ist sie wie der Christus auf ihrem Altarbild diesem Boden der Tatsachen und seiner Erdenschwere um eine winzige, aber doch entscheidende Distanz entrückt.
Ein verborgener Schatz auf dem Land: Die offene Dorfkirche
Der Stadtwald und die gepflegten, gebildeten, erfolgreichen, achtsamen und fitten Menschen können nichts dafür, dass ich neben und unter ihnen nicht finde, was sie in ihrem Stadtwald ja vielleicht finden, während ich es dort vergebens nur suche. Sie können nichts für meine Nostalgie, die vielleicht ein Heimweh nach der eigenen Kindheit, nach der Provinz, aber vielleicht auch ein Heimweh nach einer Heimat jenseits von Urbanität und Provinz ist. Sie sollen daher getrost und guter Dinge unter dem Himmel über den Bäumen ihre Runden und ihrer Wege ziehen. Es ist gut, dass sie das tun. Denn sie sind Freigelassene der Schöpfung und natürlich auch Freigelassene der Kirche. Und so kann ich ihnen nur zurufen: "Have Fun! Genießt euer Leben, auch wenn ihr zuweilen ein bisschen verbissen dreinschaut und einander nicht in die Augen zu blicken wagt. Genießt euer Leben und lasst es euch denen, die euch begegnen, zumindest ein klitzekleinwenig anmerken. Der Christus auf dem Altarbild des Dorfkirchleins ist auch für euch gestorben, auferstanden und in den Himmel gefahren, in dem er allgegenwärtig nach seiner Welt sieht, auch wenn es nicht danach ausschaut."
Und während ich all das denke, sitze ich immer noch hier, und ich spüre, dass ich hier hingehöre, auch wenn ich eigentlich gar nicht hier hingehöre. Und je länger und ruhiger ich hier sitze und je hörbarer die Fliegen an den Kirchenfensterscheiben und das Vogelgezwitscher draußen und das Knarren des alten Holzes und der verwirrt irgendwo in der Ferne krähende Hahn werden, desto mehr weiß ich, was geistliche Heimat ist. Und ich meine sogar zu wissen, was das Geheimnis des Glaubens, der Kirche und vielleicht sogar das Geheimnis Gottes ist, nach dem ich seit mehr als fünf Jahrzehnten suche, ohne es in den Worten festhalten zu können, mit denen ich unentwegt gegen das Verschwinden Gottes und gegen das Verschwinden des Glaubens anschreibe. Als Mann des Wortes, der nicht nur ein Mann des Wortes ist, weiß ich es, ohne es sagen zu können und ohne es sagen zu müssen. Und gerade weil ich es nicht sagen kann, weiß ich, dass ich es weiß. Denn ich sitze hier und das, was ich nicht sagen kann, geht aus der Tiefe und aus der Höhe durch mich hindurch mitten in mein Herz. Es ergreift mich so sehr, dass mir vor lauter Ergriffenheit das Herz aufgeht, höher schlägt und zugleich zur Ruhe kommt.
Ich wünsche Ihnen allen, die Sie diese Zeilen lesen, dass Sie einen geistlichen Ort gefunden haben oder finden werden, an dem es Ihnen genauso geht wie mir. Womöglich ist es für Sie ja der Stadtwald, in dem ich vor einigen Tagen, als ich diese Kolumne zu schreiben begann, doch tatsächlich eine alte, aufgelassene Kapelle entdeckt habe. Eine Ironie des Schicksals zweifellos. Wahrscheinlicher aber doch ein Wink der Himmels und des Gottes der Städte.
Aber fahren Sie trotzdem einmal an einem Sonntagnachmittag nach Brunn bei Heiligenstadt. Es kann auch ein Vormittag zur Gottesdienstzeit sein. Vielleicht springt dort, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen und die Menschen einander grüßen, ja ein Funke aus der Tiefe oder aus der Höhe auf Sie über.
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