Vor ein paar Tagen war ich kurz davor, mir wieder einmal mit sämtlichen Staffeln von "Game of Thrones" die Dröhnung zu geben – oder weniger prosaisch gesagt: mich in eine andere, ästhetisch überwältigende Welt des brutalstmöglichen Dauernervenkitzels entführen zu lassen, um danach um so entspannter in meinen beschaulich langweiligen Alltag zurückzukehren.
Für alle Nichteingeweihten: "Game of Thrones" ist ein Fantasy-Drama, das diesseits von Hardcore-Horror und Hardcore-Porno so ziemlich alle Abgründe der Moral auslotet und dramaturgisch über fast jeden Zweifel erhaben zum zigtausendsten Mal den Kampf zwischen Gut und Böse inszeniert. Dass gerade die entscheidenden Charaktere dabei nicht so eindeutig gut und nicht so eindeutig böse sind, wie es scheint, macht das Spektakel noch unwiderstehlicher. Die besten Folgen fühlen sich so an, als könnte einem jeden Augenblick ein Dolch in die Netzhaut und unters Bewusstsein gerammt werden. Großes Kino also. Nur der Schluss ist antiklimaktischer Mist, weil er ein bisschen so wirkt, als habe ihn sich die Bundeszentrale für politische Bildung für einen Demokratieerziehungsspot ausgedacht. Aber das ist eine andere Geschichte.
Eine Realität, brutaler und grotesker, als Hollywoodregisseure sie sich vorstellen können
Seltsamerweise habe ich es mir dann doch nicht angeschaut. Irgendwie verging mir plötzlich die Lust auf Cersei Lannister, Daenerys Targaryen, Ramsay Bolton und die White Walkers. Wer braucht die, wenn er es mit Vladimir Putin, Donald Trump, J. D. Vance, Elon Musk, Björn Höcke, Alice Weidel und Heidi Reichinnek zu tun hat? Wer muss sich noch "Game of Thrones" oder Härteres geben, wenn die Realität brutaler und grotesker ist, als selbst die durchtriebensten Hollywoodregisseure es sich ersinnen könnten?
Die Faszination des fiktionalen Horrors lebt davon, dass die Alltagswirklichkeit ereignisarm und erwartbar, also so fad ist, dass man irgendwann geil auf einen gegenweltlichen Kick wird. Man kann dann im Grandhotel Abgrund auf dem Sofa sitzen und entspannt erregt dabei zusehen, wie die Welt virtuell untergeht, während in der realen Welt alles beim Alten bleibt. Wenn man sich aber von Tag zu Tag unübersehbarer in einer Welt wiederfindet, in der nichts mehr gilt, was gestern noch galt, in der nichts mehr selbstverständlich und in der die Möglichkeit eines Dritten Weltkriegs höchst real ist, dann lässt der Appetit auf Unterhaltungsapokalypsen irgendwie nach. Meiner jedenfalls. Wenn jede Nachrichtensendung einem Waterboarding gleicht, weil die amerikanische Politik der Tyrannisierung und Traumatisierung zu einem Stakkato des Schocks geworden ist, wird der Wunsch nach Schokolade und zwei oder drei Halben Bier unwiderstehlicher als die Sehnsucht nach Nervenkitzel außerhalb der realen Welt, die schlimmer ist als "Game of Thrones".
Wenn zwei maßgebliche weltpolitische Akteure eine Geopolitik betreiben, die der Logik der Vergewaltigung und des Missbrauchs folgt, und der dritte weltpolitische Akteur das nur geschickter verbirgt, dann werden selbst die heftigsten Kino- und TV-Schocker seltsam stumpf. Ihre Disruptionseffekte wirken angesichts realer Dauerdisruption geradezu putzig phantasielos. Wenn es nur eine Hoffnung gibt, die Hoffnung nämlich, dass die Politik bald wieder langweiliger wird, dann steht einem vor dem Bildschirm der Sinn eher nach Stumpfsinn, also nach Schmonzetten, Sex und Sport, aber nicht mehr nach Weltuntergang. Und schon gar nicht mehr nach Nachrichten, allenfalls nach der Tagesschau von vor vierzig Jahren.
Der Schrecken der Gegenwart
Da gab es zwar auch Schlimmes. Aber man konnte sich wenigstens darauf verlassen, dass im Hintergrund das gute alte Gleichgewicht des Schreckens für Ordnung, Frieden und Sicherheit sorgte. Der Schrecken der Gegenwart dagegen ist deshalb so schrecklich, weil uns nahezu täglich eine andere Apokalypse aus dem Gleichgewicht bringt. Was diese Apokalypsen besonders apokalyptisch macht ist das unheimliche Gefühl, dass eine Scheibe nach der anderen von der Salami der Selbstverständlichkeit heruntergeschnitten wird – und zwar von denjenigen, die man bisher immer für politische Freunde oder zumindest für politisch vertrauenswürdig hielt.
Das alles ist schwer auszuhalten, wenn man nach 1945 in einer privilegierten Weltgegend, also beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland geboren wurde und letztlich doch in einer Zuckerwattewelt aufwuchs, in der man Uncle Sam risikolos Scheiße finden und ausblenden konnte, dass es ohne Uncle Sam so richtig Scheiße wäre, weil es Uncle Sam im Traum nicht eingefallen wäre, Europa und der NATO den Stinkefinger zu zeigen.
Noch schwerer dürfte das alles auszuhalten sein, wenn man zur sogenannten Generation Schneeflocke, also zu den weitestgehend keimfrei erzogenen Überbehüteten gehört. Ich kann mir weder meine Studierenden noch die Evangelische Jugend im Flecktarn an irgendeiner Front vorstellen. Auch beim besten Willen nicht. Aber vielleicht täusche ich mich. Vielleicht ist meine Einschätzung ein Klischee. Vielleicht rechnen gerade diejenigen, die im Angesicht der Flüchtlingskrise, der Klimakrise, der Coronakrise und des Ukrainekriegs erwachsen werden mussten, im Gegensatz zu den Deutschen meiner Generation mit nichts mehr und daher mit allem.
Haben Christen einen rettenden Rat?
Mich treibt derzeit mehr denn je die Frage um, ob es einen spezifisch christlichen Umgang mit dem weltpolitischen Dauerschockzustand gibt. Was könnten Christenmenschen sagen, wenn jemand sie fragt: "Was sollen wir nur machen? Wie hält man das alles aus?" Haben Christinnen und Christen irgendeinen rettenden Rat? Irgendeine Strategie? Irgendeinen Trost? Was fällt uns zu all dem ein?
Der österreichische Literaturkritiker Karl Kraus, der nie um ein scharfes Wort und um eine schneidende Spitze verlegen war, griff 1933 zum brutalsten Mittel der Dramatisierung einer Situation, die einem Mann des Wortes möglich ist. Er erklärte sich für sprachlos. "Zu Hitler fällt mir nichts ein", sagte er. Das könnten auch wir sagen und im Übrigen an die drei berühmten Affen erinnern. Am besten, wir stopfen uns Ohren und Augen zu, ignorieren in bester stoischer Tradition die Weltlage und vor allem die Nachrichten und hoffen darauf, dass sich Gewohnheits- und Abstumpfungseffekte, also Resilienzen einstellen. Am besten, wir flüchten ins neue Biedermeier der Einmauerung in die Me-Time. Am besten, wir lenken uns ab, lassen die Sau raus, so lange es noch geht, tanzen auf dem Vulkan, kiffen uns zu und halten für den worst case Zyankali oder Phenobarbital vor.
Aber das kann ja nicht alles sein, was Christinnen und Christen zum Umgang mit einer fühlbarer denn je destabilisierten Realität einfällt. Oder doch?
Was die Sprachlosigkeit anbelangt, so scheint sie mir jedenfalls ehrenwerter und redlicher als die anderen beiden kirchlicherseits erwartbaren, weil altbewährten und lange erprobten hochtönigen Strategien, nämlich Empörungsartikulation und Verständigungsappelle. Wer sprachlos ist, dem Gekreuzigten seine leeren Hände entgegenhält und Trost nur noch bei einem finden kann, der selbst unter die Räder der Realität gekommen ist, ist sicherlich keinen Deut ungläubiger als der gottessiegesgewisseste Auferstehungsfromme.
Wer vor Weltangst zittert und nicht mehr ein noch aus weiß, braucht eine Angst nicht zu haben: die Angst, aufgrund seines Kleinglaubens als Christ versagt zu haben. Christus selbst zittern im Garten Getsemane die Knie. Auf Golgatha schwindet ihm das Gottvertrauen. Und er macht sich keine Illusionen über seine Jüngerinnen und Jünger. In Johannes 16,33 sagt er: "In der Welt habt ihr Angst." Gerade Christen müssten es also am besten wissen, dass es zur Welt gehört, von ihr überfordert zu sein. Angstfreiheit ist die Ausnahme, nicht die Regel. Und Angstfreiheit ist schon gar nicht Gottes Erwartung an die Kinder Gottes.
Dass es uns vor Angst die Sprache verschlägt, ist daher nicht verwunderlich und zutiefst menschlich, wenn es auch sicherlich relaxter und eindrucksvoller wäre, als Christ vor Furchtlosigkeit zu strotzen. In jedem Fall macht auch jemand, der nichts mehr zu sagen hat und sich nicht mehr anders helfen kann, als bangend und fragend vor Gott zu treten, seinem Christenmenschsein Ehre. Und zwar nicht weniger Ehre als derjenige Christenmensch, der insgeheim nichts mehr von Gott erwartet, Gott innerlich den Rücken gekehrt und daher längst damit aufgehört hat, sich an Gott zu wenden, weil er das angesichts der Weltlage für lächerlich, für zynisch oder für quietistisch, also für weltfremd und weltflüchtig hält.
Nur ein wachgerüttelter Gott könnte etwas ändern
Wenn mir jemand vorwerfen würde, dass Beten weltflüchtige und realitätsvergessene Kapitulation sei, wo doch die geschichtliche Stunde engagierten Protest und Empörung sowie unermüdliche Verständigungsbemühung und Verständigungsbereitschaft gebiete, dann würde ich ihm übrigens entgegnen, dass all das nicht weniger quietistisch ist. Und zwar deshalb, weil es vor allem der moralischen Gewissensberuhigung dient und letztlich nichts ändert, so ehrenwert es auch sein mag. Wenn irgendjemand irgendetwas ändern könnte, dann nur ein wachgerüttelter Gott.
Vielleicht wird der Unterschied zwischen Christen und Nichtchristen ja in der Tat am deutlichsten daran sichtbar, dass die Einen ihre kindische Hoffnung vor allem auf den zur moralischen Vernunft gelangten und zur Verständigung bereiten Menschen setzen, während sich die Anderen kindischerweise alles vom Herbeiklagen des rettenden Gottes versprechen und allen Ernstes glauben, dass es allem Horror der Weltgeschichte zum Trotz so etwas wie eine göttliche Vorsehung oder besser gesagt eine Erlösung der Geschichte gibt.
Wenn mich also jemand fragen sollte, welchen Rat des Umgangs mit einer sich zunehmend destabilisierenden Weltlage ich ihm als Christ geben würde, würde ich mit der größten Provokation antworten, die in einer säkularisierten Gesellschaft und in einem säkularisierten Christentum denkbar ist. Ich würde sagen:
"Rüttle an Gott! Klage ihn vom Himmel herunter! Verfluche seine Abwesenheit! Sage ihm, dass er sich verdammt nochmal endlich blicken lassen soll in seiner Schöpfung! Erinnere ihn an seine Verheißung! Hoffe auf ein Wunder! Verliere weder das Gottvertrauen noch die Freude am Herrn – und trage sie in dunklen Zeiten auch Züge des schwarzen Humors!"
Karl Valentin riet bekanntlich, man solle die Dinge nicht so tragisch nehmen, wie sie sind. Und so tragisch, wie sie sind, sind sie für Christinnen und Christen ja vielleicht deshalb nicht, weil das, was ist, nicht alles ist und weil Gott wie in der biblischen Erzählung von der Stillung des Sturms entgegen allem Augenschein auch im Boot unserer Zeit sitzt. Ja, er scheint weggedämmert oder sogar tot zu sein. Aber der Schein könnte trügen. Beten wir, dass es so ist.
Kommentare
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Lieber Herr Frisch,…
Lieber Herr Frisch,
besonders christlich hört sich das für mich nicht an, was Sie wortreich von sich geben. Über Putin und Trump zu schimpfen gehört ja inzwischen zum guten Ton, damit eckt man nirgendwo an. Ich glaube nicht, dass Gott grundsätzlich abwesend ist. Woran arbeiten Sie, etwa an der Abschaffung von Religion?