Ich bin ja ein großer Fan von Untergangsszenarien. Schon als Kind habe ich mich gefragt, woran ich wohl einmal sterben werde. Ja, ich weiß. Das lässt tief blicken. Und ich weiß natürlich auch, dass solche Gedanken ungefähr so gesund sind wie Gänsebraten um fünf vor zwölf Uhr nachts. Aber abgesehen davon, dass man es sich nicht aussuchen kann, wer oder was einen fasziniert, sind Untergangsgedankenexperimente das, was Freeclimbing oder Formel 1 sind. Extremsportarten des Geistes. Sie geben der Seele denselben Kick wie echten Helden ihre 1000er Ducati. Und weil ich zum Motorradfahren zu ängstlich bin, fröne ich halt von je her der Passion des Untergangs und frage mich, woran unsere abendländische Welt und ihre abendländische Kirche dereinst sterben werden oder womöglich schon gestorben sind, weil sie ja vielleicht längst eine Art Zombieexistenz führen.

Warum zerfallen Hochkulturen?

"Stürzende Imperien. Rom, Amerika und die Zukunft des Westens." So heißt das Buch von Peter Heather und John Rapley, das mir unlängst ein Freund geschenkt hat. Es ist gewissermaßen ein Enkel von Oswald Spenglers wahrscheinlich öfter zitiertem als gelesenem Opus "Der Untergang des Abendlandes" aus dem Jahr 1918 und beschäftigt sich mit einer Frage, die angesichts von Trump und Putin aktueller denn je ist: Warum zerfallen Hochkulturen? Fallen sie einem Feind von außen zum Opfer? Gehen sie an sich selbst zugrunde? Oder – so Heather und Rapley – sterben sie daran, dass sie das exportieren, was sie am besten können, und was dann die, die es importieren, irgendwann besser und vor allem billiger können als die Exporteure? Alle Antworten auf die Frage nach dem Wesen der Krankheit zum Tode des christlichen Abendlandes überzeugen irgendwie. Und irgendwie auch nicht.

Seit einiger Zeit spukt eine Antwort in meinem eigenen Hirn herum, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Sie passt zur Sang- und Klanglosigkeit, mit der die beiden großen Kirchen nördlich der Alpen derzeit das Zeitliche segnen.

An dieser Stelle muss ich kurz einschieben, dass ich jüngst eine E-Mail erhielt, in der eine Leserin meiner Kolumnen erklärte, jetzt sei endgültig Schluss. Sie habe keine Lust mehr darauf, nach der Lektüre meiner Texte nicht einschlafen zu können. "Gottseidank", dachte ich beim Lesen der Mail. Welcher Autor will schon schlaffördernde Literatur produzieren? Es sei denn, er wäre ein Schreiber von Wiegen- und Gutenachtliedern. Ich bin ja eher ein Schreiber von Dann-gute-Nacht-Texten. Aber vielleicht sollte ich mir tatsächlich einmal vornehmen, etwas zu schreiben, was nicht zur Unruhestiftung, sondern zum Seelenfrieden beiträgt. Auch zu meinem eigenen. Stimmungsaufhellende Sonnenuntergangsstimmungsliteratur statt kirchenstimmungsgefährdende Abbruchkantentexte für Abrissbirnen sozusagen.

Schläft das christliche Abendland zu gut?

Ich schweife ab. Also zurück zum Thema. Woran stirbt das Abendland? Könnte es sein, dass das christliche Abendland und mit ihm die christliche Volkskirche untergehen, weil sie – anders als die erwähnte Leserin meiner Kolumnen – nicht zu schlecht, sondern zu gut schlafen? Könnte eine Art chronische Müdigkeit, also ein Fatigue-Syndrom der Grund sein, dass es zu Ende geht mit der Vitalität des christlichen Abendlands? Ist das Abendland irgendwann im Laufe der letzten Jahrzehnte seiner selbst müde geworden? Müsste also jemand, der dem christlichen Abendland den Toten­schein ausstellt, als Todesursachen Langeweile, Desinteresse, Apathie, Antriebsschwäche und Überdruss oder – französisch gesprochen – décadence und ennui diagnostizieren? Und rührt die derzeit beobachtbare deutsche Aufgekratztheit, Gereiztheit, Unausgeglichenheit, Unwirschheit, Angespanntheit und Nervosität vielleicht daher, das der Dämon der Zeitenwende das schlummernde Abendland aus seinem Schlaf geweckt hat und es nun wider Willen Realitäten ins Auge blicken muss, vor denen es jahrzehntelang lieber die Augen verschloss?

Ich bin weder Soziologe noch Politikwissenschaftler, Historiker oder Psychologe und kann daher nicht beurteilen, ob die Ermüdungsthese empirisch überprüfbar ist. Aber die Vorstellung, das Abendland könnte an seiner Übersättigung, am wunschlosen Weiterso seiner Existenz, an der Selbstverständlichkeit seines Daseins und letztlich an seiner inneren Leere zugrunde gehen, hat für mich etwas Bestechendes. Wenn diese Vorstellung wahr wäre, dann würde das Abendland wie die Patriarchen des Alten Testaments "alt und lebenssatt" sterben. Es wäre, als wäre das Abendland jemand, der nach einem Gänseschmaus nichts mehr will, weil er alles gehabt hat. Oder wie jemand, der weiß, dass er die Taube auf dem Dach nicht haben kann, und zugleich weiß, dass der Spatz in der Hand zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel ist.

Karl Barth über das Dösen

Es gibt ein hübsches, im Internet leicht zu findendes Interview des großen Schweizer Theologen Karl Barth aus dem Jahr 1967. In diesem Interview versucht der alte Barth Worte für den Geist seiner Gegenwart zu finden. Er beantwortet damit auch die Frage, ob derzeit ein kirchliches Bekenntnis an der Zeit ist oder eher nicht.

"Was heute passiert", so Karl Barth, "ist so eine Art Dösen, so ein Schlummern, wie man es um die Mittagszeit oder nach dem Mittagessen manchmal hat. Man kann also nicht sagen, dass diesem Dösen gegenüber ein kirchliches Bekenntnis nötig ist. Man soll nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Es ist eine ganz andere Frage, wie man diese Spatzen vielleicht verjagt und dann also etwas tut gegen dieses Dösen."

Ein Dösen also. Kein Drama. Würde Barth die gegenwärtige gesellschaftspolitische Stimmung in Deutschland und Europa beobachten können, würde er sich vielleicht der Diagnose Christopher Clarks anschließen. Der beschreibt in seinem Buch "Die Schlafwandler" die Gesellschaft vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Gesellschaft von Schlafwandlern.

Wenn wir schon bei Büchern sind: zur Zeit ist ein theologisches Buch in aller Munde, das den Titel trägt "Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt". Geschrieben hat es der katholische Theologe Jan Loffeld. Sein Titel trifft den Nagel oder vielmehr die Stumpfheit des religiös indifferenten, geistlich gleichgültigen Christentums auf den Kopf. Das Christentum, dass Loffeld in Europa vor Augen hat, ist ein Christentum der auf den Nullpunkt gesunkenen spirituellen Verteidigungsbereitschaft. Es ist ein Christentum, das sich selbst keine Zukunft mehr zutraut und das deshalb sein Heil in der Flucht aus der Religion ins Wasauchimmer, also im Themawechsel sucht.

Spirituelle Verteidigungsbereitschaft

Derzeit wird überall über die militärische Verteidigungsbereitschaft Europas gesprochen. Die Idee der allgemeinen Wehrpflicht kehrt allmählich zurück. Vielleicht sollte man christlicherseits auch über eine geistliche Wehrpflicht zur Steigerung und Stärkung der spirituellen Verteidigungsbereitschaft nachdenken. Wer spirituell eingeschlafen, geistlich ausgetrocknet und religiös leer ist, ist jedenfalls nicht verteidigungsfähig, sondern wehrlos. Das liegt auch daran, dass er sich sicher wähnt und trotz aller kirchlichen Erosions- und Transformationsrhetorik womöglich noch immer insgeheim der Überzeugung ist, dass es noch eine Weile so weitergehen werde und die Krise, wenn es denn eine gibt, keine spirituelle Krise, also keine Krise des Glaubens, ist. Umso leichteres Spiel hat der Feind. Er wird diejenigen, die den Schlaf der Gerechten oder der Arglosen schlafen, ohne Gegenwehr im Schlaf überwältigen.

Wer ist dieser Feind? Der Feind, das ist eine tiefe metaphysische, vielleicht auch eine tiefe existenzielle Gleichgültigkeit. Eine Gleichgültigkeit, der theologisch alles einerlei ist und die sich gerne als religiöse Toleranz und als Anwältin der Diversität verkleidet und verklärt. Volkskirchlich findet diese Gleichgültigkeit ihren Ausdruck darin, dass es manchmal den Anschein hat, als suche die Kirche nur weiterzuexistieren, weil es sie eben gibt, ohne sagen zu können, warum es sie geben soll und was fehlen würde, wenn es die Kirche Jesu Christi nicht mehr gäbe. Der Feind ist eine Mentalität, für die es nur noch moralische und politische, aber keine theologischen Aufreger mehr gibt – abgesehen von der aus der Zeit gefallenen und für ein selbstsäkularisiertes, nachchristliches Christentum skandalösen Aussage, dass Gott existiert und handelt.

Wohlgemerkt: der Feind, das sind nicht in erster Linie Einflüsse, Eindringlinge, Störenfriede und System- und Kulturgefährder von außen und von innen. Ja, diese Gefährder gibt es auch. Und ihr Gefährdungs-, Destabilisierungs- und Zerstörungspotenzial ist nicht zu unterschätzen, weil durch sie die freiheitlich-demokratische Gesellschaft zu einem unsicheren, dramatisch an moralischer und ästhetischer Lebensqualität einbüßenden Terrain wird. Aber die eigentlichen und alleinigen Feinde des christlichen Abendlands sind nicht diese Gefährder. Der eigentliche Feind, das ist die innere Leere einer Zivilisation, die sich mit nichts Tieferem mehr identifizieren kann, die sich nach nichts Höherem mehr sehnt und die sich in der Saturiertheit ihrer letztinstanzlichen Moral und in der Behaglichkeit ihrer zum Heiligtum gewordenen Selbstbestimmung eingerichtet hat.

Der Feind, das ist der Nihilismus des von Friedrich Nietzsche so furchtbar treffend und so treffend furchtbar beschriebenen letzten Menschen. Es könnte auch der letzte Christ sein, von dem die Rede ist: "Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern? – So fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. ‚Wir haben das Glück erfunden’, sagen die letzten Menschen und blinzeln ... Man ist klug und weiß alles, was geschehen ist ... Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht, aber man ehrt die Gesundheit. ‚Wir haben das Glück erfunden’, sagen die letzten Menschen und blinzeln." Sie blinzeln in eine untergehende Sonne. Und in ihren eigenen Untergang hinein.

"Verlorener Glaube", schreibt der Schriftsteller Benjamín Labatut, "ist schlimmer als gar kein Glaube, weil er eine klaffende Leere hinterlässt – so, wie die Leere, die der Geist zurückließ, als er diese verfluchte Welt aufgab."

Gottseidank gibt es Hoffnung. Der christliche Glaube in Europa wird nicht untergehen. Die Kirche Jesu Christi wird nicht untergehen. Und zwar deshalb, weil es nicht nur Zombiechristen, sondern Christen, und nicht nur Untergänge, sondern auch Aufgänge, vor allem aber Menschen gibt, die an den Abbruchkanten und auf den Säkularisierungsbrachen des Abendlands unterwegs sind, um die Saat des des Evangeliums zu säen. Es gibt sie, die christliche Verteidigungsbereitschaft und die christliche Widerständigkeit gegen den Dämon der dösenden Gleichgültigkeit. Es gibt sie, die Christen, die das Feuer des Geistes weiter tragen – auch durch spirituelle Dürren und geistliche Wüsten hindurch. Es gibt sie, die geistesgegenwärtigen Frommen, die das Gefühl nicht loswerden, dass – anders als Karl Barth meinte – dem christlichen Dösen unserer Zeit gegenüber vielleicht doch ein kirchliches Bekenntnis nötig ist – und sei es das Bekenntnis, dass eben doch ziemlich viel, wenn nicht sogar alles fehlt, wenn Gott fehlt und wenn dieses Fehlen selbst innerhalb der christlichen Kirche nicht einmal bemerkt wird.

Nicht aller Tage Abend

Und Gott sei Dank gibt es auch eine Verteidigungsbereitschaft Gottes. Der, dessen Sache und dessen Leben auf Golgatha verloren schien und angesichts dessen niemand mehr glaubte, dass Gott nach dem Kreuzestod Jesu Mittel und Wege finden würde, das Geschick Jesu zu wenden, wird auch jenen zur Seite stehen, die sich Sorgen um das sterbende Christentum machen. Ich weiß nicht genau, wie Gott den Seinen zur Seite stehen und wie er sie verteidigen wird. Weil ich nicht weiß, wie er Christus auferweckt hat, weiß ich auch nicht, wie er die (halb)tote europäische Christenheit und die letzten Menschen aus dem Schlaf der Sicherheit wecken wird. Aber ich weiß, dass er es tun wird. Ich weiß, dass das Wunder geschehen wird, mit dem diejenigen nicht mehr rechnen, die Gott, vor allem aber die Streitkraft Gottes abgeschrieben haben. Ich weiß, dass es geschehen wird, das Osterwunder und das Pfingstwunder. Noch ist nicht alles gut, aber auch nicht aller Tage Abend.

Wenn ich das nicht glauben könnte, könnte ich übrigens nicht mehr schlafen. In gewisser Weise sind diese Zeilen also vielleicht doch eine paradoxe Einschlafhilfe.  Sonnenuntergangsliteratur und Sonnenaufgangsliteratur zugleich. Ein Wecklied und gleichzeitig ein Wiegenlied für die Kinder Gottes, die wissen, dass die Nacht vorgedrungen ist, die sich aber allen Unkenrufen, aller Untergangsprophetie und allem hoffnungslosen Dahindämmern zum Trotz die Hoffnung nicht nehmen lassen, dass der Tag nicht mehr fern ist und am Ende ein guter Morgen kommt.

Kommentare

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Ingrid Müller am So, 25.05.2025 - 08:44 Link

Es gab die Diskussion Feiertage abzuschaffen,der Aufschrei war gross.
Hier hätten die Kirchen nachfragen können ,warum sind euch die Feiertage wichtig.
Feiert ihr die Geburt,die Auferstehung,die Erloesung,die frohe Botschaft .
Feiert ihr Himmelfahrt oder Vatertag?
Oft sind die Predigten auch mehr eine politische Botschaft und es geht nicht um das entscheidende doch.Gibt es ein Leben nach dem Tod.
Mehr mutige PredigerInnen würden das christliche Abendland retten.

PeterG am So, 25.05.2025 - 08:02 Link

Vielleicht - oder sicherlich - fehlt es am biblischen Evangelium. Politik und Moral gibt es genug, und woanders besser.

Sepp Eff am Sa, 24.05.2025 - 19:35 Link

(Ich bleibe mal im Duktus des Autoren und schreibe vieles im Konjunktiv. Dann könnte ich diese Behauptungen in die Welt werfen ohne Sie mir zu eigen und mich damit angreifbar zu machen.)

Ich überlege nämlich, ob es sinnvoll sein könnte, dass der Autor in seinem nächsten Umfeld (beispielsweise an der Evangelischen Hochschule Nürnberg - EVHN) einen vermeintlichen Dogmatik-Elfenbeinturm verlässt. Dann könnte er sehr
wahrscheinlich erleben, dass es wenig „Gleichgültigkeit, der theologisch alles einerlei ist und die sich gerne als religiöse Toleranz und als Anwältin der Diversität verkleidet und verklärt“, gibt. Und er bräuchte niemanden als „Zombiechristen“ abwerten.

Vielmehr könnte er erleben, wie vital in Kirchen WERTvolle Arbeit, Bildung und Spiritualität gelebt wird.

Ingrid Müller am So, 25.05.2025 - 11:54 Link

Alle Angebote der Kirche muss ich bezahlen.
Alle die in kirchlichen Einrichtungen arbeiten werden dafür bezahlt.
Wertvolle Arbeit schon aber nicht unentgeltlich.
Einige ehrenamtliche für das Gemeindefest oder den Kirchenvorstand die werden auch weniger.