Es ist Happy Hour im "Church’s". Happy hour in einer unhappy world. Ich setze mich an den Tresen. Der Barkeeper, der ein bisschen so aussieht wie Robert Redford, lächelt sein unerschütterliches Barkeeperlächeln und fragt mich, was es denn sein darf. "Was empfehlen Sie mir denn?", frage ich zurück. "Nehmen Sie doch einen Bonhoeffer", sagt er. "Einen Bonhoeffer? Was darf ich mir darunter vorstellen?" – "Lassen Sie sich überraschen", sagt der Mann hinter dem Tresen. "Sie werden es nicht bereuen." "Also gut", sage ich, auch wenn es sich ein bisschen pietätloser anfühlt, als beim Tennisclubitaliener eine Pizza Boris oder Steffi zu essen. "Dann trinke ich einen Bonhoeffer." – "Ge­schüttelt oder gerührt?" – "Bloß nicht geschüttelt", sage ich. "Die Welt ist erschütternd genug. Ich brauche Ruhe. Aber ein ansatzweises Hochgefühl wäre auch nicht schlecht." – "Sie werden sehen", sagt Robert, "dann ist ein Bonhoeffer genau das Richtige für Sie."

Robert serviert. Ich nippe. Schon beim ersten Schluck stellt sich ein seltsames Gefühl ein. Eine eigentümliche Mischung aus Nüchternheit und Trunkenheit. Ich nippe ein zweites Mal und beginne, mich wie ein Held zu fühlen. Mir kommt die dusselige Bierwerbung in den Sinn, die um die Zeit der Inthronisation von Prinz Charles herum als Persiflage kursierte. "Heute ein König". Heute ein Bonhoeffer. Heute ein Held. Was ist los mit mir? Ich habe kaum etwas getrunken und bin schon benebelt.

Ein Drink mit Geschichte: Was steckt im "Bonhoeffer"?

"Puh. Das Zeug ist stark", sage ich. – "Das macht das Heldentum", sagt Robert, der nicht nur ein kundiger Barkeeper zu sein scheint, der seine Ingredienzien kennt, sondern sich obendrein auch als kundiger Theologe entpuppt. "Bonhoeffer war bereit, für etwas Größeres als er selbst zu sterben", sagt Robert. Fast im Verkündigungston sagt er es. Als wäre er kein Barkeeper, sondern ein Prediger.

"Bonhoeffer schlug es aus, sich in London oder New York in Sicherheit zu bringen. Er sah seinen Platz dort, wo Adolf Hitler der Garaus gemacht werden musste, um Deutschland nicht vor die Hunde gehen zu lassen. Das, was sich so stark anfühlt, ist Bonhoeffers Mut. Sein Mut zum Widerstand und sein Mut zum Martyrium. Wer einen Bonhoeffer trinkt", so Robert, der den Cocktail vermutlich erfunden hat, "wird Teil von etwas Größerem. Geist vom Geist Bonhoeffers. Und wer wollte sich nicht mit Bonhoeffer identifizieren? Wo gab es in der evangelischen Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus einen wie Bonhoeffer? Und wo gibt es in der evangelischen Kirche der Gegenwart einen oder eine wie ihn? Die Antwort ist: Nirgends. Also trinken Sie und spüren Sie das starke Gefühl, etwas in sich zu haben, was Sie nicht in sich haben! Spüren Sie das starke Gefühl, jemand zu sein, der Sie nicht sind! Spüren Sie das starke Gefühl, Bonhoeffer zu sein!"

Ich schlucke. Der Cocktail schmeckt irgendwie auch vornehm. Nobel geradezu. "Ein edles Aroma", sage ich. "Fast aristokratisch." – "Kein Wunder", sagt Robert. "es ist ja auch unser teuerster Cocktail. Für Bonhoeffer war nur das Beste gut genug. Und nur ein elitärer Cocktail verdient den Namen eines so elitären, über jegliche Primitivität erhabenen edlen Menschen!"

Das leuchtet mir ein. "Woher kommt die Süße?", frage ich den Bonhoeffer-Markenbotschafter. "Die Süße", sagt er, "kommt vom Gottvertrauen. Manche mögen diese Süße ja nicht so. Sie finden sie fast ein wenig billig. Andere wiederum finden gerade die Süße genial, weil sie Bonhoeffers letztes Gedicht genial finden – am genialsten in der Vertonung von Siegfried Fietz, die auch hier in der Church-Bar hin und wieder ganz gern gehört wird." Robert beginnt zu summen. "Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag."

Mut, Märtyrertum und Gottvertrauen – die starke Mischung

Ich nehme noch einen Schluck. Und es fühlt sich so an, als wäre draußen mein Pferd angebunden und als würde ich gleich in den Sonnenuntergang reiten. Als Robert zu summen aufgehört hat, sagt er: "Egal, wie man zur Süße dieses Sundowners steht, die Mixtur aus Mut zum Widerstand und Mut zur Ergebung in die Vorsehung Gottes ist faszinierend. Ohne sein Gottvertrauen wäre Bonhoeffer nie zum Märtyrer geworden."

Ich nicke. Und ich sage: "Ich schmecke noch etwas. Aber nur einen Hauch davon. Etwas Weihrauchartiges. Etwas Heiliges." Robert Redford lächelt sein Robert-Redford-Lächeln. "Das ist die klitzekleine Prise Christus", sagt er. "Sie verleiht dem Ganzen diesen unvergleichlichen Flavour", sagt er. Und dann sagt er, was er offenbar zu jeder Tages- und Nachtzeit aufsagen kann und was er heute abend sicher nicht zum ersten Mal zu einem Gast sagt. "Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand. – Das ist er", sagt Robert, "der Christus-Flavour. Der Christus-Touch bei Bonhoeffer. Christus im Garten Getsemane zittert. Bonhoeffer zittert nicht. Bonhoeffer, der Held. Bonhoeffer, der Heilige. Bonhoeffer, der stärker ist als Christus."

Ich schaue tief in mein Glas und merke, dass mir Robert tief in die Augen schaut. "Unserer Kirche fehlt dieser Christus-Touch", sagt er fast traurig. "Der Christus-Touch ist es, den unsere Kirche und unsere Welt bräuchte, um die Menschen neu zu berühren und neu für die Kirche zu begeistern. Die Christen müssten Bonhoeffers Christus­kraft in sich entdecken, um eine nachchristliche Zeit wieder zum christlichen Leben zu erwecken. Sind es etwa nicht die heldenhaften Christen, die in einer Welt, in der so wenig für Christus spricht, für Christus sprechen? Ohne echte Christusnachfolge ist keine kirchliche Christusverkündigung glaubwürdig. Oder nicht?"

Was soll ich sagen. Ich stimme ihm zu. Vielleicht auch deshalb, weil mein erstes Glas schon leer ist und mich allmählich das unwiderstehliche Gefühl beschleicht, von Bonhoeffer selbst bedient zu werden. "Geben Sie mir noch einen", sage ich. "Einen dop­pelten." Er mixt. Ich trinke. Beim ersten Schluck des zweiten Cocktails legt sich mir etwas auf die Zunge, was ich beim ersten Bonhoeffer nicht geschmeckt habe. Eine merkwürdige Bitternis. Bitter­sweetness wäre vielleicht das bessere Wort.

Der Geschmack des Zweifels: Die unerwartete Zutat

"Woher kommt diese Bitternis?", frage ich ihn. "Diese Bitterness, die irgendwie genauso high macht wie die Stärke?" – "Die Bitternis", sagt Robert, "das ist die Dosis Atheismus. Manche wissen ja gar nicht, dass die drin ist in Bonhoeffer. Sie kennen nur den Widerstandskämpfer und den Gottergebenen. Den Atheisten kennen sie nicht. Aber ohne den Atheismus ist es kein richtiger Bonhoeffer-Cocktail. Eigentlich", sagt Robert, "ist die Dosis Atheismus das Faszinierendste an Bonhoeffer. Für mich jedenfalls." Und er beginnt wieder zu zitieren. "Wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müssen, als ob es Gott nicht gäbe. Und eben dies erkennen wir – vor Gott! Gott selbst gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Gott lässt sich herauskreuzigen aus der Welt. Er ist ohnmächtig. Er stirbt. Wir können", sagt Robert, "von Bonhoeffer lernen, was es heißt, die Weltlichkeit der Welt und die Argumente der aufgeklärten Religionskritik furchtlos ernstzunehmen. Wir können lernen, was es heißt, illusionslos ohne Gott zu leben und ohne Gott stark zu sein. Und zwar so stark, dass wir sogar die Kraft bekommen, Gott beizustehen, der unter die Räder der Welt gerät. Christen, schreibt Bonhoeffer, stehen bei Gott in Seinen Leiden. Nicht in ihren Leiden. In seinen Leiden. Ich finde, es ist wirklich an der Zeit, etwas für Gott zu tun. Wir sollten aufhören, darauf zu warten, dass Gott etwas für uns tut. Sind wir etwa nicht die Ebenbilder und Stellvertreter Gottes? Gerade als Christen, die in der Welt dafür sorgen sollen, dass die Sache Jesu weitergeht?"

Ich weiß nicht. Ich kann nicht mehr klar denken. Aber weil es eh schon egal ist, nehme ich erneut einen Schluck. "Da ist noch eine andere Geschmacksnote", sage ich. Es fällt mir schwer, sie zu beschreiben. Da ist etwas, das – gut schmeckt. Einfach gut." – "Sehr gut", lobt er mich. "Sie haben einen feinen Gaumen. Das, was Sie da schmecken, ist Bonhoeffers Humanismus. Vielleicht wissen Sie ja, dass Bonhoeffer ein radikaler Reformator oder vielmehr ein Transformator war. Ein Transformator von Transzendenz. Transzendenz kommt vom lateinischen Wort "transcedere", das "überschreiten" heißt. Bonhoeffer verstand unter Transzendenz allerdings nicht das, was wir uns gemeinhin darunter vorstellen. Für ihn bedeutete Transzendenz nicht mehr die Selbstüberschreitung des Menschen auf ein höchstes oder tiefstes Wesen, sondern die Selbstüber­schreitung des Menschen auf den anderen Menschen hin. In Christus sah Bonhoeffer das Urbild und das Vorbild dieser Transzendenz. Denn Christus, das war für Bonhoeffer der prototypische Mensch für Andere. Und wenn die christliche Kirche eine Kirche echter christlicher Transzendenz sein will, dann muss sie zu einer Kirche für Andere werden. Also zu einer Kirche für die Bedürftigen, für die Benachteiligten und für die Schwachen, in denen Christen den schwa­chen Christus wiedererkennen."

Er neigt sich zu mir herüber. "Unter uns: Diese humanistische Transzendenz ist sozusagen der Geschmacksträger des Cocktails. Außerdem kommt seine schöne rote Farbe daher. Man muss übrigens genau aufpassen", flüstert er mir zu. Und ich merke, hier spricht ein Eingeweihter. "Man muss aufpassen, dass es ein roter Bonhoeffer bleibt. Wenn man falsch dosiert, schlägt das Rötliche ins Bräunliche um. Es gibt amerikanische Barkeeper, die grundsätzlich nur braune Bonhoeffer servieren. Scheußlich."

Ich habe mein zweites Glas fast ausgetrunken. Noch einmal prüfe ich, was mir auf der Zunge liegt. Aber ich schmecke nichts mehr, was ich nicht schon vorhin geschmeckt habe. "Das ist alles, oder?", frage ich Robert. Er nickt und lächelt. "Das ist alles. Wir fühlen Sie sich? Noch einen? Eigentlich kann man ja im ‚Church’s‘ von Bonhoeffer nicht genug bekommen. Ein Bonhoeffer geht immer. Und wenn ein Bonhoeffer geht, dann gehen auch zwei oder drei."

"Was soll’s", denke ich und nicke. Längst ist mir warm ums Herz geworden. Mein Kopf glüht. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht wegen der Cocktails. Vielleicht wegen Bonhoeffer. Vielleicht auch wegen Robert, dem Bonhoeffer-Missionar.

"Ich muss gehen", sage ich, als ich den nächsten Bonhoeffer geleert habe. "Gehen Sie mit Gott!, sagt er. Und lächelt. Oder mit Bonhoeffer, denke ich. Es fühlt sich an wie ein Segen.

Bonhoeffer für die Kirche von heute – was bleibt?

Ich wanke hinaus. Als es mir zu Hause endlich gelingt, meine Wohnungstür aufzusperren spüre ich ihn, den aufdringlichen, merkwürdig beißenden Geschmack im Mund. Es ist komisch. Jeder einzelne Bestandteil des Bonhoeffer-Cocktails nötigt mir Hochachtung ab. Jede Ingredienz ist auf ihre Weise betörend und heldenhaft im besten Sinn. Geradezu ehrfurchtgebietend heldenhaft in einer Zeit, in der die Welt von Antihelden regiert wird, die sich für Helden halten. Bonhoeffers Widerstandsgeist ist heldenhaft. Bonhoeffers Gottvertrauen ist heldenhaft. Bonhoeffers Mut zum radikalen Zweifel an Gott ist heldenhaft. Bonhoeffers radikale Christusnachfolge ist heldenhaft. Und heldenhaft ist natürlich auch Bonhoeffers kompromisslose Liebe zum Menschen.

Aber wenn all diese ehrfurchtgebietenden Ingredienzien zusammengeschüttelt oder zusammengerührt werden und ich dem Cocktail einen Abend lang zuspreche, merke ich, dass die Gesamtkomposition nicht wirklich überzeugend ist – jedenfalls nicht so überzeugend, dass sie eindrucksvoller wäre als die Einzelbestandteile. Einige dieser Einzelbestandteile sind so stark, dass sie einander beißen. Man merkt Bonhoeffer das redliche, ehrliche, authentische und existenzielle Bemühen an, Atheismus und Gottvertrauen zusammen­zuden­ken. Und man kennt es ja irgendwo von sich selbst. Es gibt Tage, da ist das Gottvertrauen stärker. An anderen Tagen dagegen die Gewissheit, dass es nichts ist mit diesem Gott und dass es einfach nicht sein kann, dass es ihn gibt. Aber der Versuch, aus diesen gemischten Gottesgefühlen eine widerspruchsfreie Logik, also einen harmonischen Cocktail zu zaubern, ist zum Misslingen verurteilt. Auch wenn man noch so oft wiederholt, was Bonhoeffer sich selbst wahrscheinlich mehr einzureden versucht hat, als dass es ihn selbst überzeugt hätte: "Vor und mit Gott leben wir ohne Gott." Vor Gott? Mit Gott? Ohne Gott? Als Gott? Wie soll das zusammengehen?

Mir wird schwummrig. Vielleicht mag ich einfach keine Cocktails. Vor allem keine Bonhoeffer-Cocktails. Bonhoeffer mag ich schon. Sehr sogar. Aber nicht diesen Cocktail, der beißend nach Zuckerwatte schmeckt und jedes Gegenargument darin erstickt, sobald ich den Mund aufmache. Man kann mit einem Bonhoeffer-Cocktail alle Probleme der Kirche hinunterspülen, zukleistern und für gelöst erklären, ohne sich ernsthaft mit der Unvereinbarkeit von Bonhoeffers Gedanken, mit den inneren Widersprüchen von Bonhoeffers Theologie und mit dem Verlorengehen des eigenen Glaubens auseinandersetzen zu müssen. Man kann Kirche als Experiment verstehen, ob es auch ohne Gott und ob es ohne Gott vielleicht sogar besser geht. Und man kann dabei trotzdem das Gefühl haben, guten Gewissens Kirche sein zu können, weil man Bonhoeffer auf seiner Seite hat und ihn jederzeit als Trumpf aus dem Ärmel ziehen kann, der immer sticht. Man kann cool bei Church’s sitzen, sich dort am eigenen humanistischen Atheismus berauschen, dazu das Bonhoefferlied von Siegfried Fietz hören und sogar selig mitsummen. Das geht. – Aber geht es wirklich? Macht man sich nicht vielleicht doch etwas vor, wenn man glaubt, auch zu glauben, wenn man nicht glaubt?

Ich weiß nicht so recht. Ich glaube nicht, dass es christlich ist, als Christ zu leben, als ob es Gott nicht gäbe. Entweder es gibt ihn. Oder es gibt ihn nicht. Aber vielleicht bin ich auch nur zu zugedröhnt, um einen differenzierteren und intelligenteren Gedanken fassen zu können. Ich weiß es wirklich nicht.

Ich gehe zum Kühlschrank. Denn eines weiß ich sicher. Ich brauche jetzt dringend ein Augustiner.

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Magnolie am Di, 01.04.2025 - 21:33 Link

Unterhaltsam und kunstvoll geschrieben. Glauben kann man nicht erzwingen, manchmal erfasst man das Wirken Gottes im eigenen Leben besser in der Retrospektive.