epd: Sie reisen mit der bayerischen Delegation zur Vollversammlung des LWB. Bei solchen Tagungsorten ist es sicherlich besonders spannend, Teil der weltweiten Kirche zu sein...
Michael Martin: Das stimmt. Es ist mein erstes Mal in Namibia, ich bin schon gespannt. Wir werden natürlich auch unserer eigenen Geschichte begegnen. Denn Namibia war eine deutsche Kolonie. Das spielt für unsere Delegation ein ganz wichtige Rolle, genauso wie der Umgang der Deutschen mit den Herero. Wir müssen uns auf die Fragen anderer Teilnehmer vorbereiten: wie Deutschland denn Namibia heute sieht, wie die Schuldgeschichte in Deutschland wahrgenommen und aufgearbeitet wird.
Interessant finde ich persönlich, wie sich die drei lutherischen Kirchen in Namibia zueinander verhalten. Darüber weiß ich noch wenig. Ihr Verhältnis ist offenbar aber nicht ganz unproblematisch, auch weil sich weiße und schwarze Lutheraner nicht ganz freundlich gesonnen sind. Viele weiße Lutheraner feiern immer noch deutsche Gottesdienste.
epd: In diesem Jahr feiern die Protestanten 500 Jahre Reformation: Warum kommt die Vollversammlung nicht in Deutschland zusammen - dem Geburtsland Luthers, dem Ursprungland der Reformation?
Martin: Das Zentrum des Weltluthertums ist nun mal nicht mehr auf der Nordhalbkugel und erst recht nicht mehr in Deutschland. Die Kirchen in der südlichen Hemisphäre dagegen wachsen sehr stark. Schauen Sie nur nach Tansania oder nach Südostasien. Bei uns gehen die Mitgliederzahlen in den lutherischen Kirchen stetig zurück. Und außerdem setzt man nicht zweimal hintereinander eine Vollversammlung im gleichen Land an - 2010 war ja Deutschland mit Stuttgart an der Reihe.
"In Namibia hat es seit vier Jahren nicht mehr geregnet."
epd: Wie kam man auf Namibia?
Martin: Ganz einfach: Die lutherischen Kirchen in Namibia haben den LWB eingeladen. Afrika und auch Südamerika sind spannende Orte für das Luthertum. Dort ziehen die Pfingstkirchen mit ihrem Wohlstandsevangelium immer mehr Menschen an. Ihre Botschaft lautet, zugegeben etwas platt ausgedrückt: "Komm zu uns! Dann wirst du gesund, reich und erfolgreich." Falls das nicht eintritt, dann war halt dein Glaube nicht stark genug oder du hast nicht genug Geld gespendet. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was die Reformatoren im 16. Jahrhundert gesagt haben: nämlich dass ich mir die Gerechtigkeit und Gnade Gottes nicht kaufen kann.
Special
epd: Spielt Namibia denn auch inhaltlich eine Rolle während der Tagung?
Martin: In Namibia hat es seit vier Jahren nicht mehr geregnet, was eine direkte Folge der Klimaerwärmung ist. Dass das katastrophale Auswirkungen auf die Ernte hat, kann man sich vorstellen. Die Menschen hungern, können ihr Land nicht mehr bewirtschaften und werden dann zu Flüchtlingen im eigenen Land. Meistens kommen sie in Städten in den Elendsquartieren unter, weil sie keine Jobs finden. Natürlich müssen wir - gerade in Namibia - darüber sprechen, wie afrikanische Länder am Weltmarkt beteiligt sind, wie es mit Flüchtlingsbewegungen oder der Klimaerwärmung aussieht.
"Kein Mensch darf Gegenstand von Kaufverhandlungen werden."
epd: Hat das auch etwas mit dem diesjährigen Stichwort der Vollversammlung zu tun: "Not for Sale" (nicht zum Verkauf)?
Martin: In gewisser Weise schon. Der Rat des Lutherischen Weltbundes wollte im Jubiläumsjahr natürlich das Thema Reformation aufnehmen: Gottes Gnade und Freiheit. Daraus ist dann das Motto geworden "Liberated by God's grace" (Befreit durch Gottes Gnade). Um die Arbeitsfelder des LWB deutlich zu machen, hat man sich auf die drei Begrifflichkeiten "Human beings" (Menschen), "Creation" (Schöpfung) und "Salvation" (Erlösung) geeinigt, die alle unter der Überschrift "Not for Sale" stehen. Die Liebe Gottes, die Gerechtigkeit Gottes kann man sich nicht kaufen. Genauso wenig wie die Schöpfung oder Menschen. Kein Mensch darf Gegenstand von Kaufverhandlungen werden.
epd: Und dann muss bei der Vollversammlung auch noch der 70. Geburtstag des Lutherischen Weltbundes gefeiert werden...
Martin: ... der ein Zeichen dafür ist, dass die lutherische Kirche heute eine weltweite Kirche ist. Das war vor 70 Jahren noch völlig anders. Da waren die lutherischen Kirchen regionale Kirchen, die wenig miteinander zu tun hatten. Durch die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs kam die Idee auf, dass die lutherischen Kirchen sich zusammentun, um ihren Brüdern und Schwestern in Europa zu helfen. Deutschland war damals Empfängerland. Wir haben eine Menge bekommen zum Aufbau von Kirchen oder Gemeindezentren. Neben dieser Entwicklungsarbeit ist der große Schwerpunkt Theologie dazugekommen, also dass die lutherische Kirche mit einer Stimme spricht im Verhältnis zu anderen Kirchen.
epd: Wie stark ist denn diese Stimme?
Martin: Man kann auf jeden Fall sagen: Diese eine Stimme ist sehr stark. Der LWB-Präsident, der in Namibia wieder neu gewählt wird, ist das Gegenüber für andere Konfessionen. Er ist zum Beispiel das Gegenüber für den Papst. Bleiben wir mal bei der Theologie und der weltweiten Versöhnung 2010 mit den Mennoniten, also den Täufern im 16. Jahrhundert, die von den Lutheranern verfolgt wurden. Die wurde nur möglich durch Gespräche zwischen dem Lutherischen Weltbund und der Mennonitischen Weltkonferenz.
Auch bei politischen Fragen können wir mit einer Stimme sprechen. Wir haben ja ein weltweites Kirchennetzwerk, aus dem wir uns Erfahrungen ziehen können. In Europa jammern wir derzeit gewaltig über den Zuzug und die Unterbringung von Flüchtlingen. Afrikanische Länder und Kirchen haben uns da aber einiges voraus. Die meisten Flüchtlinge bleiben ja in ihrer Heimatregion, nur die wenigsten schaffen es zu uns. Da können wir lernen.
Hintergrund
Der Lutherische Weltbund (LBW) ist die Dachorganisation von weltweit mehr als 74 Millionen lutherischen Christen. Die Lutheraner berufen sich auf die Theologie ihres Namensgebers Martin Luther (1483-1546), während sich reformierte Christen etwa an Johannes Calvin (1509-1564) oder Ulrich Zwingli (1484-1531) orientieren.
Zum LWB gehören 145 Kirchen in 98 Ländern. Er wurde am 1. Juli 1947 im schwedischen Lund gegründet und hat seinen Sitz in Genf. Präsident ist seit 2010 der palästinensische Bischof Munib A. Younan. Als Generalsekretär amtiert seit dem gleichen Jahr Martin Junge, ehemaliger Präsident der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Chile.
Die meisten lutherischen Christen leben in Deutschland. Im Ursprungsland der Reformation gibt es elf Mitgliedskirchen mit rund 12 Millionen Mitgliedern. Die Zahl der Lutheraner in der Bundesrepublik ist aber deutlich höher, da auch den unierten Landeskirchen viele lutherische Christen angehören. Größte Mitglieder im Weltbund sind die Kirchen von Äthiopien, Tansania und Schweden.
Das oberste Leitungsgremium des Lutherischen Weltbundes ist die Vollversammlung. Sie tritt alle sechs bis sieben Jahre zusammen, zuletzt 2010 in Stuttgart. Die 12. Vollversammlung tagt vom 10. bis 16. Mai 2017 in Namibia. Die Delegierten treffen grundsätzliche Entscheidungen, legen das Arbeitsprogramm fest und wählen den Präsidenten sowie den Rat. Der Rat ist das oberste Leitungsgremium zwischen den Vollversammlungen. Ihm gehören 48 Vertreter der Mitgliedskirchen sowie Präsident und Schatzmeister an.
epd: Der Lutherische Weltbund setzt sich aus so vielen Kirchen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen zusammen. Wie viele Gemeinsamkeiten bleiben denn zum Schluss?
Martin: Die größte Gemeinsamkeit ist, dass man miteinander Gottesdienst feiert. In verschiedenen Sprachen, mit verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten, Liedern, Gesängen, Tänzen. Das ist jenseits aller Resolutionen und theologischer Texte eine ganz wichtige Sache für die Vollversammlung. Das Erlebnis, dass wir weltweite Kirche sind. Ein tansanischer Pfarrer erzählt vielleicht, dass seine Kirche oder sein Gemeindezentrum aus allen Nähten platzt, weil die Kirche dort so viel Zulauf hat. Und unsere Pfarrer erzählen dann vielleicht von homosexuellen Pfarrern, die im Pfarrhaus zusammenleben. Das wäre in Tansania nicht denkbar. Aber das Schöne ist: Man ist weltweite Kirche und bleibt trotz solcher Differenzen zusammen.
"An der Frage zur Homosexualität ist die Kirchengemeinschaft fast auseinandergebrochen."
epd: Andere Kirchen haben aber ganz andere Probleme als Homosexualität oder Frauenordination. Da geht es um Hunger, Armut, fehlende Bildungschancen. Bleibt da nicht nur der kleinste gemeinsame Nenner übrig?
Martin: In den vergangenen Jahren hat man im LWB intensiv an der Frage zur Homosexualität gearbeitet. Denn daran ist die Kirchengemeinschaft fast auseinandergebrochen. Durch viele Gespräche im LWB-Rat und durch Überlegungen zum Bibelverständnis hat man es geschafft, dass man zusammenbleibt, obwohl man unterschiedliche Wege geht. Ähnlich ist es mit der Frauenordination, die eigentlich Standard innerhalb des LWB ist. Und trotzdem gibt es einige Kirchen, die noch keine Frauenordination haben, wie etwa unsere Partnerkirchen in Papua-Neuguinea und Australien. Aber wir unterstützen die Diskussion darüber, wohlwissend, dass so ein Gespräch über die Kulturen hinweg natürlich nicht nur konfliktfrei ist. Ein kirchentrennender Grund ist das aber noch nicht.
epd: Was wäre denn so ein Grund?
Martin: Den gab es sogar schon einmal. Und zwar bei der Vollversammlung 1984 in Budapest. Damals war der große Streitpunkt zwischen vielen lutherischen Kirchen die Apartheid in Südafrika. Zwei "weiße" Kirchen aus dem südlichen Afrika unterstützten die Rassentrennung und schlossen sich dadurch selbst aus dem LWB aus. Denn niemand darf wegen seiner Hautfarbe aus der Abendmahlsgemeinschaft ausgeschlossen werden. Ansonsten würde man das Innerste der Verkündigung beschädigen. Als die Apartheid abgeschafft war, konnten sie in einem Versöhnungsprozess wieder eingegliedert werden.
"Der LWB ist natürlich weit weg von den Gemeinden."
epd: Sie sprechen viel über das Erlebnis "Weltweite Kirche" bei so einer Vollversammlung. Was bringt die aber den einzelnen Kirchengemeinden?
Martin: Das ist eine ganz schwierige Frage, denn der LWB ist natürlich weit weg von den Gemeinden. Deshalb haben wir eine zehnköpfige Begleitgruppe aus ganz Bayern dabei, die der Basis dann berichten soll. Greifbar wird so eine Vollversammlung, wenn die Beschlüsse Auswirkungen auf das Miteinander in der Gemeinde haben. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre mit der römisch-katholischen Kirche von 1999 ist so ein Beispiel, denn dadurch hat sich das ökumenische Miteinander in den Kirchengemeinden intensiviert.
Oder anderes Beispiel: Wir haben vor kurzem im Landeskirchenrat mit der katholischen Freisinger Bischofskonferenz eine gemeinsame Regelung für ökumenische Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen erarbeitet. Das ist nur möglich, weil es eine vertrauensvolle Beziehung zwischen der Lutherischen Weltkirche und der römisch-katholischen Weltkirche gibt.