"Uns ist ein Kind geboren". Das bringt Menschen heute in Bewegung auf der ganzen Welt. Sie nehmen das letzte Flugzeug. Sie fahren einmal quer durchs Land. In den Straßen ist kein Durchkommen, Autos im Stau. Zu den Eltern und Verwandten heimfahren. Oma nicht allein lassen. Und auf den Gehsteigen der Stadt quetscht man sich aneinander vorbei und muss schnell noch ein Geschenk besorgen. Uns ist ein Kind geboren. Das ist das Weihnachtswunder, das uns alle miteinander verbindet. Schön, dass Sie da sind, liebe Hörerinnen und Hörer. Mit mir zusammen für diese halbe Stunde am Weihnachtsabend. Das Weihnachtswunder betrifft ein "uns", ein "wir". Auch wenn Sie heute alleine feiern sollten, gehören Sie zu diesem großen Wir. Irdisch, himmlisch, jahrhunderteüberdauernd. Ein Kind bringt uns zusammen, eine Geschichte. Die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium.

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. (Lk 2,1-5)

Ein Kind wird geboren, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort. Kaiser, Staatsbeamte, Mutter und Vater – die Kreise sind abgesteckt und werden größer und größer. Hirten und besondere Gäste aus dem Ausland kommen, die Weisen aus dem Morgenland, um dieses Kind zu begrüßen. Nicht zu vergessen die Tiere und die Engel, die Nacht, der Stern. Ins Irdische, ins Menschliche, in die Menschheitsgeschichte ist diese Geburt eingeschrieben.

Jedes Detail bis zu den Windeln ist auserzählt. Das göttliche Kind kommt zur Welt wie du und ich. Und die allerschönsten Musiken sind komponiert worden über die Ankunft des Kindes im Stall.

Maria wiegt ihren Sohn im Schoß

Mich berühren in diesem Jahr besonders die ganz schlichten und innigen Wiegenlieder der Weihnacht. Die Geschichte im Lukasevangelium erzählt nichts davon, dass Maria dem Kind ein Lied singt, nachdem sie es in Windeln gewickelt hat. Aber Menschen, die die Geschichte über die Jahrhunderte gehört haben, haben sie genau an diesem Punkt angehalten. Und etwas hineingetragen, was sie zutiefst berührt und angeht. So ist es mit heiligen Texten. Wir eignen sie uns an, nehmen sie uns zu Herzen auf diese Weise. Die Geschichte, die da erzählt wird, wird zu meiner Geschichte. So ist es am Anfang bei der Geburt des Heiligen Kindes. Einem Neugeborenen, einem Baby und Kleinkind singt man Wiegenlieder. Jedem Neugeborenen. Und so ist es am Ende der Geschichte von Jesus. Die Mutter hält ihren toten Sohn im Schoß. Es entsteht die Pieta. Ein Bild für die tiefe Trauer. Als würde sie ihn wiegen. Die alten Lieder singen, die ihn früher als Kind beruhigt, getröstet haben….Und jetzt braucht sie selber dieses Singen und Wiegen….Maria hält ihren Sohn im Schoß, als würde sie ihm ein letztes Mal ein Wiegenlied singen. Auch das steht nicht geschrieben in der Passionsgeschichte und ist doch wahr.

In den Krippenspielen meiner Kindheit durfte ich immer mal wieder die Maria spielen. Ein schönes blaues Tuch auf den Schultern und ein Wiegenlied singen. Einer der schönsten Momente für mich. Still, still, weils Kindlein schlafen will.  Denn etwas wurde dann still in mir.

…evolutionsbiologisch von Vorteil

Lullaby, Berceuse, Cântec de leagăn, Nana – in jeder Sprache dieser Welt gibt es Wiegenlieder. Ihr Zauber berührt uns ein Leben lang. Da ist was Weiches, Liebevolles. Da ist eine Stille trotz Gesang und Melodie und Worten. Stille und Bewegung. Das Kind liegt in den Armen, es geht hin und her und hin und her. Und gerade dadurch kommt es zur Ruhe. Vielleicht ist das eine Grundformel unseres Lebens. Wir sind nicht auf Entweder-Oder gepolt, Ruhe oder Bewegung. Da ist eher ein sowohl als auch. Auch wenn wir ruhen, ist etwas in uns in Bewegung – in Träumen, in unseren Zellen, die sich in jeder Sekunde erneuern. Es ist eine Herzensbewegung im Wiegen, die eine Herzkammer berührt die andere. Und vielleicht auch die eine Gehirnhälfte kommt mit der anderen zusammen. Denken und Fühlen. Dann sind wir vollständig und ganz Mensch.

Ich habe es so sehr geliebt, meinen Kindern Wiegenliedern zu singen. Es sind die innigsten Momente zwischen Mutter und Kind, Vater und Kind, Oma und wer auch immer da ist. Die Stimmen kennt das Kind noch aus dem Mutterbauch, besonders die mütterliche Stimme. Und es kennt das Hin und Her von den Bewegungen der Mutter. Es kennt Getragenwerden. Geborgenheit. Umgrenzung. Und muss gehalten und bewegt werden, sobald es in die große Welt gekommen ist. In einem schlichten Lied kommt das alles zusammen. Wiegen, niedersingen – wie es hier bei "Still, still" auf niederösterreichisch heißt. Das Nervensystem beruhigen. Ich hatte oft den Eindruck, das Kind in meinen Armen wird leichter, weil es sich so sehr entspannt und ins Vertrauen fallen lässt.

Der Germanist Karl Eibl hat wissen wollen, warum der Mensch seit frühesten Zeiten, lange bevor es geschriebene Texte, Romane, Erzählungen gab, rhythmische Verse, Poesie und Musik verfasst hat. Eibl wollte wissen, ob das evolutionsbiologisch von Vorteil für den Menschen war. Sein Fazit: ja, Rhythmus und Worte, die mehr sind als Information, die eine Seelensprache sprechen, helfen, sich in der rätselhaften, zum Fürchten und Staunen großen Welt zurecht zu finden. Das bringt die aufgewühlte Seele zur Ruhe. Hilft, Katastrophen zu bewältigen. Schweres zu überstehen.  Und das ist evolutionär von Vorteil. Vielleicht gehören die Wiegenlieder da auch dazu. Auch sie haben einen klaren Rhythmus und man kann sie beliebig oft wiederholen, bis das Kind schläft. Sie sind wie eine weiche Decke, die vor der Außenwelt schützt. Wenn ein Kind Angst hat, zieht es die Decke über den Kopf und fühlt sich sicher. Wiegenlieder wirken so. Auf das Kind und oft auch auf die Mama, die Oma, die das Wiegenlied singt.

Und manchmal muss man sich Hilfe holen, abwechseln – kannst du bitte übernehmen, ich kann nicht mehr. Auch diese, Eltern sehr wohl bekannte Szene, ist in einem Weihnachtswiegenlied enthalten: "Josef, lieber Josef mein, hilf mir wiegen mein Kindelein!"

Ein Wiegenlied für Erwachsene

An diesem Weihnachtsfest sehne ich mich als erwachsene Frau nach dem Trost, den ein Wiegenlied einem Kind schenken kann. Dieses Jahr hat uns so viel abverlangt, auch wenn wir nicht in Kiew und Tel Aviv vor Bombenhagel in den Schutzkeller laufen müssen. Auch wenn wir nicht hungern in Gaza und durch vollkommen zerstörte Straßen laufen müssen, wo kein Haus und kein Stein auf dem anderen steht. Auch wenn wir nicht wie so viele Familien in Israel immer noch um ihre Liebsten bangen, die in Geiselhaft sitzen. Selbst aus der Ferne ist es erdrückend, herzzerreißend, zum Himmel schreiend. Bei uns haben Fluten gewütet. Und werden in Zukunft zu unserem Leben gehören. Laut ist die Welt geworden, zu viel Gewalt, zu viel Menschenverachtung. So viele Kinder, so viele Frauen- ausgeliefert. Von all dem zu viel. Dieser Abend kann eine Ruheinsel sein. Ich möchte nicht die Augen verschließen vor alledem oder mir die Ohren zuhalten. Das muss auch niemand. Die Weihnachtsgeschichte (selbst) geht mit uns in die dunklen Winkel hinein und lässt ein göttliches Licht durch die Ritzen kriechen. Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht. Und die alten Worte des Propheten Jesaja trösten mich. Sie werden für mich so ein Wiegenlied für Erwachsene, denn sie lassen mich mit offenen Augen träumen vom Frieden.

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte,

Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Antreibers zerbrochen... 

Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. 

Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; 6 auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit.

Die schwere Jochstange, die man Tieren und versklavten Menschen auf die Schulter legt, damit sie genug tragen oder ziehen können, die ist zerbrochen. Dem Sklaventreiber ist die Peitsche aus der Hand genommen. Der Stiefel, der alles Leben zertrampelt und mit Gedröhn dahergeht, landet im Feuer. Die Macht der Unterdrückung hat ein Ende, sie ist vergänglich. Und göttliche Macht ist anders, behutsam, fängt klein an. Frieden fängt klein und zart an. An diesem Traum halten Menschen seit Jahrtausenden fest und ich schließe mich ihnen an. Ich glaube an den Friedefürst. Für uns selbst, für unsere Lieben, für diese Welt.

Ein Wiegenlied aus Rumänien stellt die Krippe, die Wiege des Jesuskindes auf einen schönen grünen Hügel unter strahlenden Himmel.  Und der ganze Kosmos kümmert sich um dieses Kind. Die Sonne erleuchtet sein Gesicht und der Wind schaukelt die Wiege des Kindes hin und her. Eine kleine paradiesische Szene. Jedes Kind soll so geborgen sein

Wir: Gottes Verstecke

Das Große und das Kleine kommen zusammen an diesem Abend. Es ist verbunden in den heiligen Texten. Und so können wir es nehmen. Beim Windelnwickeln vom Frieden träumen und auf ihn hoffen für die zerschundene Welt da draußen. Und was dafür tun. Das ist wichtig. Aber noch nicht alles. Wie mache ich Frieden mit mir selbst? Ich kann mich selbst unter ein schweres Joch klemmen. Mich unterdrücken lassen, von wem auch immer. Ich kann mich selbst antreiben wie ein Sklaventreiber. Mach schnell! Stell dich nicht so an! Meine Gedanken können wie Soldatenstiefel auf mir herumtrampeln. Oder ich mach es mit jemand aus meiner Familie, aus meiner Nähe. Der Frieden der Welt ist gefährdet durch Menschen, die mit sich keinen Frieden haben. Und die alle manipulieren, die zu ihnen gehören. Also beginnt der äußere Friede in mir. Weihnachten ist nichts ohne den Weg nach innen. Hier angekommen, bei meinen Herzkammern und Gehirnhälften, angekommen beim Fühlen und Denken, da kann – auch in mir - etwas Neues geboren werden. Etwas Göttliches. Friedvolles.

Großer Gott klein

grosser gott:

uns näher

als haut

oder halsschlagader

kleiner

als herzmuskel

zwerchfell oft:

zu nahe

zu klein –

wozu

dich suchen?

 

wir:

deine verstecke[1]

Der Schweizer Pfarrer Kurt Marti hat das so beschrieben. Wir sind Gottes Verstecke. Der Mensch ein Versteck Gottes. Jeder Mensch. Bei manchen so sehr versteckt, dass das Göttliche ganz verdeckt ist. Ich denke dabei an Männer, die diese Welt immer wieder in Kriege stürzen. Die Frauen und Kindern Gewalt antun. Ich denke an Frauen, die nicht lieben können, Hass verbreiten und andere verachten. Kann ich es trotzdem auch von ihm und ihr denken und glauben? Gott ist auch in dir versteckt? Vielleicht ist das so gemeint mit der Feindesliebe, die dieser Friedefürst uns ans Herz legt. Jeder Mensch ist ein Versteck Gottes, das zu achten und zu respektieren ist. Er wird geboren, ein Mensch wie wir, damit wir das Göttliche in uns allen sehen und lieben und teilen.

Ich steh an deiner Krippen hier – so beginnt das Weihnachtslied, das in diese inneren Herzkammern und Sehnsüchte führt. Und es endet mit der Bitte: "Lass mich doch dein Kripplein sein, leg dich und alle deine Freuden in mich hinein". 

Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Lk 2,8-20

Da ist es wieder…Maria behält all diese Worte und bewegt sie in ihrem Herzen. Da ist es wieder, das Hin und Her, das immer wieder, das tröstet, beruhigt und Gott einen Platz im Herzen schafft. Wiegeworte zum hin- und her bewegen. Auch für die Hirten auf dem Feld mit ihren Schafen. "Fürchtet euch nicht". "Ehre sei Gott und Friede auf Erden". Wunder-Rat. Friedefürst. Große Freude. Wir: deine Verstecke.

Wiegeworte für uns an diesem Heiligen Abend. Sie helfen uns, in Bewegung zu bleiben und geborgen zu sein in der Welt, die für immer von Gott bewohnt ist.  

Vater unser im Himmel…

Segen

Möge der Engel Gottes,

der in die Welt die Botschaft vom Frieden brachte,

an deinem Haus nicht vorübergehen.

Und möge das Kind,

das hinter der Armut seine Göttlichkeit verbarg,

in deinem Herzen eine Wohnung finden.

Frohe Weihnachten!

 

[1] Kurt Marti, Schon wieder heute. Ausgewählte Gedichte 1959–1980. Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1982.

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